Peter Rödler
Grundlagen zu einem pädagogischen Verständnis
autistischer Verhaltensweisen
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Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die Geschichte des Autismus stellt sich als eine nun mehr 57 Jahre andauernde
vergebliche Suche nach Lösungen dar. Für die Menschen, die Ihr Leben auf
der Basis autistischer Verhaltensweisen bewältigen und ihre Angehörigen
eine schier endlose Zeit! Wie oft schien mit einer neuen Methode endlich der ersehnte
Schlüssel zur 'Festung Autismus' gefunden, um dann schon bald wieder relativiert
zu werden und letztlich der nächsten Mode Platz zu machen. Wie viele
Enttäuschungen immer wieder! Wie oft aber auch das Fragen, wenn die Kinder
älter werden: "habe ich alles probiert?", "was wäre gewesen, wenn wir dies
oder jenes damals schon gewusst hätten? Hätte unser Kind, meine
Schülerin oder Schüler dann eine bessere Chance gehabt?" Oder: "Waren
oder sind unsere Ansprüche unmäßig? Muss ich, müssen wir
unsere Wünsche begraben?"
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
sie sehen: eine Flut von Fragen, Hoffnungen und Enttäuschungen, die letztlich aus
dem 57 Jahre dauernden Wechselbad der Lösungen entstanden ist! Ich werde mich
hüten, in diese Tradition einzutreten und ihnen ebenfalls 'neuesete
Lösungen' bieten zu wollen, so sehr ich, gerade wegen der beschriebenen
Situation wie auch aus meiner Kenntnis über den Alltag dieser Arbeit heraus, den
Wunsch nach Lösungen verstehen kann.
Ich möchte deshalb hier auch nicht die Pädagogik gegen die Psychologie
oder Medizin ausspielen, also sozusagen mein Fach die Pädagogik insgesamt als
Lösung anbieten. Ich denke, die medizinische und psychologische Forschung hatte
und hat weiterhin wichtige Erkenntnisse, wenn auch keine Handlungsanweisungen,
für diesen Praxisbereich zu bieten. Alleine es geht, meiner Meinung nach, darum,
sich generell davon zu verabschieden hier 'Lösungen' zu erwarten.
Im Grunde geht es bei meinen Überlegungen um die Wiedergewinnung einer
Position, die 1911 von dem Erfinder des Begriffes 'Autismus' eingenommen
wurde. Dieser bezeichnete bei der Beschreibung der Schizophrenie das selbstbezogene
Verhalten jenseits äußerer Realitätsprüfung der Menschen, die
er dieser Gruppe zuordnete, als Autismus, d.h. hier bezeichnet -Autismus- keine
nosologische Gruppe, keine Krankheitseinheit sondern ein spezifisches Verhalten im
Rahmen der Symptomatik der Schizophrenie, wird also noch adjektivisch gebraucht. Zur
eigenen Krankheitseinheit - und damit zum wirklichen Substantiv - wurde Autismus dann
erst 1943 bei Kanner und Asperger. In Ergänzung der Zusammenfassung Ritvos
über die frühe Entwicklung dieses Begriffes -from adjective to
noun- stellen meine folgenden Ausführungen sozusagen die Umkehrung
dieser Entwicklung dar: and back.
Genese und Wert autistischen Verhaltens
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist eine anthropologische Grundannahme,
deren Begründung hier nur angerissen werden kann: die biologische
Unbestimmtheit des Menschen. In diesen Freiraum von biologischer Bestimmung
hinein gestalten Menschen ihre gesellschaftlichen wie individuellen Bedeutungen der
Welt, die in ihrem Wechselbezug letztlich das ausmachen, was man Kultur oder auch
Sprache (hier sehr allgemein verstanden, d.h. nicht auf Sprechen reduziert) nennen kann.
Diese Qualität der menschlichen Gattung ist aber auch gleichzeitig ihr Schicksal.
So sind die Menschen ohne für sie verwertbare kulturelle
Orientierungen als Ersatz für die mangelnde instinktive Orientierung primär
einer für sie nicht zu strukturierenden Flut von Reizen ausgesetzt. Die
außerordentliche Bedeutung dieser anthropologischen Grundannahme für das
Verständnis des Autismus wird in diesem Zusammenhang, denke ich, unmittelbar
deutlich. Ich möchte diesen Aspekt im Zusammenhang mit Überlegungen
zur Wahrnehmungsverarbeitung etwas weiter ausführen.
Die Größe der Aufgabe des wahrnehmungsverarbeitenden Systems wird in
der folgenden Grafik überaus deutlich.
Wenn dem Bewusstsein nur ca. 10 bis 16 Informationen pro Sekunde zugänglich
sind, aber alleine aus Auge, Ohr und Haut 1 Mrd. Reize pro Sekunde zur Verarbeitung
anstehen, so ist die drastische Reduktion dieser Reizflut eine der Hauptaufgaben des Nervensystems. Dabei ist es offensichtlich verfehlt, hier nur von einer einfachen Filterfunktion (16 aus 1 Mrd.), etwa einer Art Sieb auszugehen. Selbst wenn hierbei ein 'kontextsensitives Stellglied' für eine hoch relevante Auswahl der wenigen 'durchgelassenen' Informationen sorgen würde, wäre
eine adäquate Referenz auf die Außenwelt unter Wegfall von
annähernd 100 % der Informationen nicht zu leisten.
Es bedarf hier offensichtlich eines Vorgangs, der die Menge der Informationen in einer
Weise umkodiert, dass deren verarbeitbare Menge ein ausreichendes Maß an
Informationen beinhaltet.
Sievers beschreibt mit der "Superzeichenbildung" einen solchen Prozess, bei dem eine
Menge von Informationen zu Bündeln, den 'Superzeichen', zusammengefasst
werden, so dass eine erhebliche Reduktion der Informationsmenge ohne Verlust der
Information möglich wird. So kann z.B. die unendliche Reihe an Informationen
2 4 8 16 32 64 128 ... auch durch die Vorschrift 2n dargestellt werden. Mit einem
eigenen Modell soll dieser Vorgang hier noch näher erläutert
werden:
Die Grafik zeigt eine Folge von 16 Informationen. Ausgangspunkt der folgenden
Ausführungen ist, dass diese hintereinander von einem Menschen aufgenommen
werden. Die Erläuterungen sollen den Verarbeitungsvorgang der
"Superzeichenbildung" modellhaft quasi in Zeitlupe verfolgen.
Beginnen wir mit dem ersten Zeichen. Dieses dürfte keine Beunruhigung
auslösen, da wohl allgemeine Übereinkunft zu erreichen wäre, dass
dies eine Eins sei. Nun ist dies aber keine Eins, sondern noch eine Eins.
Wäre dies die erste Eins, die dieser Mensch sehen würde, wüsste er
nicht, dass dies eine Eins ist. Es wäre für ihn - wie für
viele Kinder - in der Identifikation mit dem Wahrgenommenen eine Art 'Auf und Ab'.
Dieses Verständnis hätte aber wiederum als Voraussetzung, dass eine
entsprechende sensomotorische Erfahrung schon einmal gemacht worden wäre. -
Es wird deutlich, der Prozess der Superzeichenbildung ist dem der Konstruktion von
Welt sehr nah. - Noch näher liegt diese Überlegung bedenkt man, dass
diese Erklärung wie auch die Wahrnehmung einer gewissen Rhythmik in den von
mir gebotenen Informationen überhaupt nicht möglich wäre, wenn die
Grafik aus völlig fremden Zeichen z.B. aus einer entsprechend strukturierten
Folge chinesischer Schriftzeichen gebildet würde.
Kehren wir zu unserem Beispiel zurück: Wir haben hier also: noch
eine Eins, noch ein a, noch ein x, noch ein Stern
(oder eine Schneeflocke oder ...: wir entscheiden uns für Stern),
noch ein a ... ? Nein! An dieser Stelle geschieht etwas Neues.
Bestätigten sich bisher nur Strukturen im Langzeitgedächtnis, so tritt hier
auch das Kurzzeitgedächtnis in Aktion: Wir haben als gewissermaßen
noch, noch ein a, da das letzte a innerhalb der 10 Minuten Speicherzeit des
Kurzzeitgedächtnisses aufgetreten war, es also aus beiden
Gedächtnisbereichen ein Referenzsignal gibt. Verfolgen wir den
Wahrnehmungsvorgang in diesem Modell weiter: wie gesagt noch, noch ein
a, noch ein Doppelkreuz, noch ein G, noch, noch ein
Stern, noch, noch eine Eins, ... Und wieder geschieht etwas Neues. An
dieser Stelle kann das Langzeitgedächtnis nur signalisieren: noch ein
a, während das Kurzzeitgedächtnis sagen kann: noch ein
'1-a'!
Diese Informationskombination scheint bedeutsam, erscheint sie doch innerhalb einer
kurzen Zeit zum zweiten Mal. Diese Neuigkeit führt in der Weise zu einer
Orientierungsreaktion, dass die beiden Zeichen zusammengefasst werden und mit einem
Namen - nennen wir das Bündel A - versehen werden. In derselben Weise ist es
dem wahrnehmungsverarbeitenden System durch einen jeweiligen Rückgriff
auf Grund der Wiederholung möglich, x-* als B, a-# als C und G-* als D
zu bezeichnen.
Es zeigt sich, dass wir schon eine erhebliche Informationsreduktion erreicht haben.
Darüber hinaus zeigt die Verwendung von Zeichen der gleichen Art
auf dieser Ebene (A, B, C, D), dass dieses repräsentative Muster alleine ein
Gebilde des jeweiligen zentralen Verarbeitungssystems darstellt, während die
ursprünglichen 16 Informationen ja noch Zeichen sehr verschiedener Art - in der
Realität z.B. Informationen aus verschiedenen Sinnesbereichen, aus
dem verarbeitenden System selbst usw. - darstellten.
Wird die hier gezeigte Folge von Informationen weiterhin aufgenommen, so kommt es
zu dem gleichen Vorgang, jedoch schon erheblich verkürzt: noch ein
A, noch ein B, noch ein C, noch ein D,
noch, noch ein A, und wiederum neu, durch Rückgriff
möglich: noch ein A-B: das Bündel wird I genannt, und
noch ein C-D: das Bündel wird II genannt! Dieser Vorgang weiter
fortgesetzt ermöglicht wiederum im Rückgriff die Bündelung von I
und II, so dass sich jetzt die Folge als die Wiederholung einer einfachen Information
darstellt, wobei die ursprünglichen Informationen nicht verlorengegangen, sondern
in dem entstandenen Superzeichen enthalten sind.
Dieser Reduktionsprozess bildet dabei auch die Grundlage unserer jeweiligen
Weltkonstruktionen.
Wie aus dem alternativen 'Bündeln' dieser zweiten Grafik - als einer
weiteren Möglichkeit - hervorgeht, gibt es aber noch viele Möglichkeiten, die
16 Informationen zu gruppieren mit entsprechend unterschiedlichen Ergebnissen. So wird
einsichtig, welche unendliche Fülle an Möglichkeiten die sich uns in jeder
Sekunde 1 milliardenfach mitteilende Welt beinhaltet, wenn schon 16 einzelne
Informationen eine solche Vielfalt von bündelnden Konstruktionen zulassen.
Ein wesentliches Kriterium für die Art der Bündelung ergibt sich vor allem
aus dem hier so sehr betonten noch ein ... Jede neue Strukturierung der Welt
kann immer nur bezogen auf bekannte Strukturen erfolgen. Die Menge und Art der
vorhandenen Bündel bestimmt damit die Konstruktion der Welt des jeweiligen
Menschen, die anderen als dessen Persönlichkeit erscheint. Diese ist damit
immer historisch: individuell - bezogen auf die in gemachten Erfahrungen
entstandenen vorhandenen Bündel - und gesellschaftlich - bezogen auf den
jeweiligen Ausschnitt des kulturellen Erfahrungsbereiches ('kulturelles Erbe') als
Hintergrund dieser Erfahrungen.
Wesentlich für die Möglichkeit der Bündelung ist deshalb immer -
und das gilt nicht nur, sondern auch für die Arbeit mit schwer geistig behinderten
Menschen -, dass in der Welt der Menschen Wiederholungen vorkommen.
Wahrnehmung ist damit prinzipiell an das Gedächtnis gebunden, ist von diesem
existenziell abhängig. Die Aussage, dass das Gedächtnis unser 'wichtigstes
Sinnesorgan' sei, bekommt damit einen außerordentlich bedeutsamen Hintergrund.
Sensorik und Motorik erweisen sich in diesem Modell nicht nur einfach als Einheit von
'Wahrnehmen und Bewegen', sondern in einer besonderen Form auch mit und
über das Gedächtnis verbunden.
Dies verweist auf ein weiteres wesentliches Kriterium der Wahrnehmungsverarbeitung
im beschriebenen Sinne. Wiederholung bestimmt ja nur die eine Seite des beschriebenen
Prozesses. Wegen der, wie gezeigt wurde, immer vorhandenen mehreren
Möglichkeiten der Bündelung von bekannten Informationen
bedarf es darüber hinaus auch einer Orientierung, eines Organisators, der den
Maßstab dafür liefert, welche der verschiedenen Möglichkeiten nun
konkret realisiert werden sollen. Dieser Organisator besteht nun nicht in einem eigenen
organisatorischen Bereich des Nervensystems, sondern ist dem gesamten Vorgang der
Wahrnehmung inhärent. So bilden die 'Gedächtnisspuren' des
Wahrgenommenen im Gehirn nicht nur den modalen (d.h. sinnesspezifischen) Inhalt der
Wahrnehmung, sondern auch seine amodale (sinnesunspezifische) Bewertung
mit ab. Diese bilden beim Wahrnehmungsprozess dann die notwendige Orientierung im
Hinblick auf die Bewertung der anstehenden Möglichkeiten.
Ein Beispiel: sicher kennen und erkennen Sie viele Automarken. Dennoch werden Sie,
wenn Sie heute nach dem Vortrag quer durch die Stadt laufen, vermutlich keines der
Ihnen begegnenden Autos, auf die Sie zumindest in dem Maß achten
müssen, dass Sie sicher auf die andere Straßenseite kommen, identifizieren.
Es sind halt Autos und sie werden nur in soweit wahrgenommen - z.B. in Bezug auf die
Geschwindigkeit, gesetzte Blinker ... - wie Sie es für die Sicherheit Ihres Weges
benötigen. Ganz anders, wenn Sie sich gestern entschlossen haben ein bestimmtes
Auto zu kaufen oder diesen Kauf gerade getätigt haben. Möglicherweise
haben Sie sich für einen wirklich neuen gerade herausgekommenen Typ
entschieden, durchaus mit dem Gefühl hier eine noch etwas exquisite Wahl
getroffen zu haben. Nun gehen Sie durch die Stadt und sehen - wenn dies nicht eine
wirklich exquisite Wahl war - an allen Ecken 'Ihr' Auto stehen. Was
für eine Kränkung! Aber vorgestern, vor Ihrer Entscheidung, haben Sie
doch diese Autos noch gar nicht gesehen! Wo kommen die jetzt plötzlich alle her?
Die Lösung ist mit unserem Wahrnehmungsmodell schnell gefunden. Vorgestern
vor der positiven Bewertung dieses Typs durch Ihre Kaufentscheidung ist
dieser Typ in der amorphen Menge aller Autos untergegangen: 'ist er zu schnell um
vorher noch über die Straße zu kommen?', 'biegt er ab?' ... mehr wurde
von ihm nicht wahrgenommen. Jetzt aber wirkt dieses 'Bündel' 'dieser Typ'
orientierend, ruft eine entsprechende Aufmerksamkeit hervor.
So imponierend in diesen Überlegungen die Leistung unseres
Wahrnehmungssystems erscheint, sie ist und bleibt gebunden an die primäre
Voraus-Setzung äußerer sozialer Bedeutungen als Referenzpunkte für
diese Orientierungsleistungen. Finden Menschen dagegen keine solche sozialen Hilfen in
diesem Prozess können Sie an der dann entstehenden
Wahrnehmungsüberflutung sogar sterben. Die weitgehende Isolation von dem
Raum menschlicher Orientierungen, durch welchen Grund auch immer, trifft diese
Kinder dabei nicht alleine psychologisch in ihrer Motivik, sondern gefährdet mit
der Wahrnehmungsorganisation auch ihre gesamte organische Organisation:
Isolation kann töten!
Nun sind aber in der Regel aller erste Orientierungen über die primäre
Versorgung doch verwertbar, so dass es in der Regel nicht zum totalen Zusammenbruch
des Systems kommt. Auf der Basis solcher nur rudimentärer Orientierungen ist
aber andererseits auch kein dynamisches, den - vor allem sozialen -
Veränderungen der Welt gewachsenes psychisches System zu bilden. So dient das
gesamte Trachten eines Menschen in dieser Lage dem Erhalt der brüchigen
Orientierungsgrundlage: Änderungen werden wenn möglich
unterdrückt, eigene stereotype und damit hochgeordnete Selbststimulationen als
Orientierungshilfen in der ansonsten nicht verarbeitbaren Umwelt eingesetzt. Mit diesen
Mitteln gelingt einem Menschen in dieser Lage damit eine, wenn auch brüchige,
Anpassung an die Umwelt. Stereotypien bis hin zu selbstverletzendem Verhalten
verweisen dabei auf die Fähigkeit von Menschen, auf der Ebene minimaler
gewonnener Bedeutungen und fortbestehender massiver Isolation, dennoch der
Wahrnehmung eine minimale Orientierungsgrundlage zu bieten und so zumindest ihre
Existenz zu sichern.
Diese Überlegungen im Zusammenhang mit dem obigen Beispiel zeigen: nicht nur
'Autisten' auch 'wir' bilden andauernd Ordnungen, d.h. neue Wahrnehmungen -
Variationen bekannter 'Bündel' - werden in unser Ordnungssystem eingeordnet,
wobei dieses allerdings durchaus gleichzeitig durch diese Einordnung mehr oder weniger
intensiv umgeordnet werden kann: Neues wird bekannt, Bekanntes wird differenziert
bzw. verändert sich. Der Unterschied dieses Ordnungsprozesses zum autistischen
Verhalten besteht nur darin, dass in diesem Verhalten der Aspekt der Ordnung
existenziellen Charakter gewinnt. Während im Normalfall die Bildung von
Ordnungen einer flexiblen Anpassung an eine flexible Welt dient, also Mittel zum Zweck
ist, werden diese Ordnungen in einer Situation in der diese flexible Anpassung aus
welchen Gründen auch immer nicht mehr gelingt, zur Grundlage der Existenz, sie
werden selber zum Zweck. So wird im Extremfalle die Gleicherhaltung der Umwelt zur
Bedingung der psychischen und physischen Existenz, wobei dieses Verhalten gleichzeitig
den Erwerb der Kompetenz des Umgangs mit Neuigkeit durch das Leben in
'Dauerordnungen' erschwert, wenn nicht verhindert.
Diese Überlegungen zum Wert des als 'autistisch' bezeichneten Verhaltens zeigen,
die prinzipiell wesentliche Bedeutung dieses Verhaltens. Dabei ist zu bedenken, dass
dieses in den seltensten Fällen den gesamten Lebensraum eines Menschen
durchzieht. Weitaus häufiger findet dieses Verhalten der Selbstsicherung nur in
den Fällen statt, in denen die Orientierungsgrundlage eines Menschen
zusammenbricht oder verloren zu gehen droht. Hier zeigt sich mir nun der
Übergang vom 'Autisten' zum 'Menschen mit autistischen Verhaltensweisen'.
Dort wo die selbsterzeugten Ordnungen, Stereotypien, Rituale ... bis hin zu
Selbstverletzungen praktisch den gesamten Weltzugang eines Menschen bestimmen,
dieses Verhalten als dessen 'Wesen' erscheint - wobei übersehen wird, dass dieses
Verhalten eine Antwort auf eine inadäquate Umwelt ist (!) - sollte von
Autismus gesprochen werden, was in unserem Zusammenhang keine (!)
nosologische Gruppe, der ein gemeinsamer Wirkzusammenhang unterstellt werden kann,
meint! In den 'Fällen' in denen Menschen nur in bestimmten Situationen zeitweise
zu einer autistischen Selbststabilisierung greifen sollte dagegen von autistischem
Verhalten gesprochen werden.
Gestatten Sie mir auf der Basis der nun entwickelten Grundlagen noch einige Hinweise
im Hinblick auf die Praxis der Arbeit mit Menschen mit autistischen Verhaltensweisen.
Die Tendenz zur stereotypen Gleicherhaltung der Umwelt kann auf verschiedenen
Entwicklungsebenen stattfinden und gewinnt dadurch jeweils verschiedenen Charakter.
So kann das Stereotyp, Ritual oder sonstige autistische Verhalten z.B.:
1. Ausdruck eines von sehr wenigen basalen, existenzsichernden 'Bündeln'
sein. In diesem Fall wird diese Stereotyp in der Regel natürlich
entsprechend intensiv ge- und erlebt, d.h. die hier möglicherweise
lebenswichtigen Stereotypien sind häufig so intensiv, dass sie zu z.T.
massiven Verletzungen führen, andere Wahrnehmungen sind unter der
Bedingungen des Stereotyps weitestgehend ausgeblendet. Eine Chance zum
produktiven Handeln haben wir hier in der Regel nur in den letztlich immer auch
vorhandenen stabileren Zwischenphasen, die nicht so stark durch das autistische
Verhalten bestimmt sind. In diesen Phasen gilt es nun diesen Menschen so
deutliche an ihrer Lebensgeschichte angelehnte Orientierungen anzubieten, dass
auf der Basis dieser Orientierungen der drohende Zusammenbruch, der dann
entsprechend massiv mit Stereotypien verhindert werden muss, mit zunehmender
Wahrscheinlichkeit verhindert werden kann.
2. Es kann schon den Charakter einer Wahrnehmungshilfe im Sinne eines Fetisch
oder eines Rituals haben mit dem ein Erkennen von Gegenständen oder
Situationen ja möglicherweise sogar eine gewisse flexible Orientierung auf
der Basis dieser Stereotypien möglich ist. So berührt ein mir
bekannter Autist immer bestimmte Stellen in einem Raum bevor er ihn
verlässt und meldet sich auch in dem Raum, in den er eintritt, entsprechend
an. Auf der Grundlage dieses Verhaltens kann er dann aber in den Räumen
recht flexibel agieren.
3. Darüber hinaus kann ein solches Verhalten sogar Werkzeugcharakter
haben, d.h. das autistische Verhalten kann evtl. sogar zur Befriedigung eines
Wunsches benutzt werden. So konnte eine Autistin nur dann die Nutella aus dem
Schrank holen und einen Löffel davon essen, wenn sie sich auf einem
bestimmten immer gleichen Weg unter heftigem Armwedeln dem Schrank, in dem
die Nutella stand, näherte. Ohne dieses Ritual war sie zu dieser
Selbstversorgung nicht in der Lage.
Ich denke, die drei Beispiele machen die qualitativen Sprünge, die hier trotz
fortgesetzt stereotypem Verhalten möglich sind, sehr deutlich. Ebenso deutlich
wird aber auch, dass diese individuellen Sinnzusammenhänge im Einzelfall zu
entschlüsseln ein außerordentlich mühsames Geschäft ist, dass
von allen allgemeinen Ratschlägen und Rezepten eher gestört als
befördert wird. So dienen diese Methoden häufig letztlich nur der
Bewältigung der - verständlichen (!) - extremen Unsicherheit bei dieser
Arbeit, d.h. sie hat eine ganz ähnliche Bedeutung wie die Stereotypie selbst. So
gilt es und das ist ein erster und, wie ich meine, wesentlicher Ratschlag für dieses
Arbeit, auf der Grundlage der hier vorgelegten Überlegungen, den eigenen
Überzeugungen und Annahmen, vor allem wenn sie immer wieder (=
stereotyp!!!) bestätigt werden, zu misstrauen! Wie häufig wird sonst
nämlich, gerade wegen der stereotypen (Re-)Aktionen der 'Autisten' das Verhalten
der Erzieher, Eltern, Betreuer ... zum Spiegelbild und damit zur das autistische
Verhalten stabilisierenden Bedingung für dieses Verhalten: die Suche nach
der Lösung des Problems wird zu seiner Bedingung! Die Art wie wir selbst
'funktionieren' und das autistische Verhalten liegen eben doch sehr dicht
nebeneinander!
Als weiterer Hinweis sei auf die Möglichkeit des Einsatzes von Ritualen und
materiellen Orientierungssystemen (Auftragskärtchen, Tages- oder Wochenuhren
...) verwiesen. So starr diese Möglichkeiten im Einzelfall erst einmal sein
mögen, sie haben auf jeden Fall hohen Orientierungswert und können,
werden sie bewusst eingesetzt, ja zu gegebener Zeit variiert werden.
Die Reflexion solcher Maßnahmen, und das ist der dritte Hinweis, kann dabei,
wegen der aufgeführten Effekte, in der Regel niemals von einem Menschen alleine
geleistet werden. Die Reflexion der Arbeit in Supervisionsgruppen oder zumindest eine
kollegiale Beratung von Menschen, die nicht direkt mit dem 'Fall' befasst
sind, ist hier dringend geboten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
sicher konnte ich nicht die oft ersehnte Lösung für das 'Problem' Autismus
bieten. Ich hoffe aber dennoch Ihnen ein Verständnis, eine Sicht auf die Genese
und die Bedeutung autistischer Verhaltensweisen gegeben zu haben, die es Ihnen erlaubt,
mit größerer Wahrscheinlichkeit für und mit Menschen mit
autistischen Verhaltensweisen, die Welt jeden Tag immer wieder neu fruchtbar zu
erfinden!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Literatur:
Bleuler, E.: Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien Handbuch der Psychiatrie.
Spezieller Teil, 4. Abteilung 1. Hälfte. Wien, 1911
Jantzen, W.: "Allgemeine Behindertenpädagogik", Bd. 2, Weinheim, 1990
Putscher, M.: Die fünf Sinne. München 1978, S. 106
Ritvo, E.R.: Autism - Diagnosis, current research and management. New York 1976
Rödler, P.: Menschen, lebenslang auf Hilfe Anderer angewiesen - Grundlagen einer
allgemeinen basalen Pädagogik. Frankfurt 1993
Sievers, M.: "Frühkindlicher Autismus". Köln, 1982
Sinz, R.: "Neurobiologie und Gedächtnis". Stuttgart, 1979
Anschrift des Verfassers:
Peter Rödler
E-Mail: proedler@uni-koblenz.de