LANDAUER MANIFEST

für Integration statt Isolation
von pflegebedürftigen Menschen mit geistiger Behinderung

31. Mai 1997

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der "Konferenz der Lehrenden der Geistigbehindertenpädagogik an wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland (KLGH)" verfolgen aktuelle sozialpolitische Entwicklungen, die das Recht auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen mit hohem Pflegebedarf in Frage stellen, mit großer Sorge. Sie lassen eine gravierende Verschlechterung der Lebensbedingungen dieser Menschen erwarten: Isolation in Pflegeheimen statt Eingliederung in die Gesellschaft.

Die Fakten:

Dies kann im Interesse von Menschen mit schweren Behinderungen nicht hingenommen werden:

  1. Die international anerkannten Leitlinien der Geistigbehindertenpädagogik Normalisierung der Lebensbedingungen, Integration, Selbstbestimmung werden durch die Ausgrenzung von Menschen mit schweren Behinderungen in Pflegeheime mißachtet. Tendenz: Zurück zur Verwahrung.
  2. Eine Abstempelung zum Pflegefall stellt die Entwicklungsfähigkeit jedes Menschen in Frage. Sie mißachtet seine Subjektivität und macht ihn zum bloßen Objekt von Pflege.
  3. Eine nur pflegerische Versorgung und Isolation in speziellen Pflegeeinrichtungen oder -abteilungen läßt das in § 3 GG formulierte Grundrecht außer acht, daß niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Sie steht darüber hinaus dem ebenfalls im Grundgesetz verankerten REcht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit entgegen.
  4. Erkenntnisse der Wissenschaft und Erfahrungen der Praxis unterstreichen die fundamentale Rolle der Pädagogik bei der lebenslangen Entwicklung und Persönlichkeitsförderung von Menschen mit schwersten Behinderungen. Wesentliche Aspekte sind: der Aufbau einer sozialen Beziehung, die Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und Wünsche, die Entwicklung nonverbaler Kommunikation, die Förderung von Selbständigkeit und die Unterstützung von Autonomie im Alltag auf der STufe der jeweiligen Entwicklung sowie das Einbeziehen in die Gemeinschaft. Pflegerische Tätigkeiten sind in diesen pädagogischen Rahmen eingebunden.
  5. Die Teilnahme am allgemeinen Leben in normalen Alltagssituationen verleiht dem Dasein von Menschen mit schwersten Behinderungen Sinn. Eine dem pädagogischen Anspruch genügende bedürfnisorientierte enwicklungsfördernde Alltagsgestaltung ist unter den Bedingungen eines Pflegeheims nicht möglich.
  6. Erfahrungen haben gezeigt, daß sich die Mißachtung grundlegender Bedürfnisse von Menschen mit schwerster Behinderung bei einer auschließlich auf Pflege ausgerichteten Betreuung destruktiv auf ihre Persönlichkeitsentwicklung ausgewirkt: Psychische Störungen, Depressionen bis hin zur Selbstaufgabe sind die Folge.
  7. Die mit dem Etikett "Pflegefall" einhergende Abwertung von Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung begünstigt ihre Aussonderung in nahezu allen Lebensbereichen (Bildung, Wohnen, Arbeit, Freizeit). Sie nährt - auf dem Hintergrund von Kosten-Nutzen-Analysen - die Diskussion über den Lebenswert dieser Menschen.
  8. Eine Konzentrierung schwer pflegebedürftiger Menschen mit geistiger Behinderung in Pflegeheimen verstärkt Vorurteile und erzeugt ein negatives Bild von dieser Personengruppe. Sie wird nicht als Teil der Gesellschaft erlebt, der selbstverständlich dazu gehört und die behinderungsbedingt notwendigen Hilfen erhält, sondern als Randgruppe, mit der niemand etwas zu tun haben will.

Wir fordern: