LANDAUER MANIFEST
für Integration statt Isolation
von pflegebedürftigen Menschen mit geistiger Behinderung
31. Mai 1997
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der "Konferenz der Lehrenden der
Geistigbehindertenpädagogik an wissenschaftlichen Hochschulen der
Bundesrepublik Deutschland (KLGH)" verfolgen aktuelle sozialpolitische
Entwicklungen, die das Recht auf Eingliederungshilfe für behinderte
Menschen mit hohem Pflegebedarf in Frage stellen, mit großer Sorge.
Sie lassen eine gravierende Verschlechterung der Lebensbedingungen dieser
Menschen erwarten: Isolation in Pflegeheimen statt Eingliederung in die
Gesellschaft.
Die Fakten:
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Aus einigen Bundesländern wird berichtet, daß Behindertenheime
mit einem hohen Anteil pflegebedürftiger Menschen vom
Sozialhilfeträger aufgefordert werden, ihren Status als Einrichtung
der Behindertenhilfe aufzugeben und das Heim in ein Pflegeheim bzw. einzelne
Bereiche in Pflegeabteilungen mit einer verantwortlichen Pflegefachkraft
umzuwandeln.
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Pflegebedürftige Menschen mit geistiger Behinderung, die auf der
Suche nach einem Wohnplatz außerhalb ihrer Familie sind, sehen sich
zunehmend vom Sozialhilfeträger in Pflegeeinrichtungen gedrängt.
Vielen wird das Recht auf Wohnen in einer Einrichtung der Behindertenhilfe
versagt.
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Hintergrund: Nach dem am 1.7.96 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung
des Pflegegesetzes (1. SGB XI-ÄndG) beteiligen sich die Pfegekassen
bei vollstationärer Betreuung eines pflegebedürftigen Menschen
mit geistiger Behinderung in einem Behindertenheim mit max. 500.-
an den monatlichen Kosten. Bei einer Betreuumg in einem anerkannten
Pflegeheim zahlen sie den nach der gesetzlichen Pflegeversicherung jeweils
zustehen Höchstbetrag (bei Pflegestufe III bis max. 3.300.- DM pro
Monat).
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Da die Sozialhilfeträger den Anteil der Pflegekassen von bis zu 500.-
DM für eine nicht ausreichende Entlastung erachten, wird sich aus
wirtschaftlichen Gründen die Tendenz zur Umwandlung von
Behinderteneinrichtungen in Pflegeeinrichtungen verstärken. Dies hat
einschneidende Folgen für Menschen mit geistiger oder mehrfacher
Behinderung:
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Reduzierung der Betreuung auf Pflege anstelle einer auf Integration zielenden
Betreuung, die pädagogische, rehalbilitative und pflegerische
Maßnahmen umfaßt.
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Verweigerung notwendiger Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
für schwer behinderte und alte Menschen mit geistiger Behinderung -
Ausgliederung statt Eingliederung!
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Fehlplazierung von pflegebedürftigen Menschen mit geistiger Behinderung
in Pflegeeinrichtungen der Altenhilfe.
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Abbruch von Enthospitalisierungsprogrammen für ehemalige
Psychiatriepatienten mit geistiger Behinderung durch Umwidmung von
heilpädagigschen Heimen in Pflegeheime.
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Bildung neuer Behindertenghettos durch die Zusammenfassung von schwer
behinderten Menschen in speziellen Institutionen.
Dies kann im Interesse von Menschen mit schweren Behinderungen nicht hingenommen
werden:
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Die international anerkannten Leitlinien der Geistigbehindertenpädagogik
Normalisierung der Lebensbedingungen, Integration, Selbstbestimmung
werden durch die Ausgrenzung von Menschen mit schweren Behinderungen
in Pflegeheime mißachtet. Tendenz: Zurück zur Verwahrung.
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Eine Abstempelung zum Pflegefall stellt die Entwicklungsfähigkeit
jedes Menschen in Frage. Sie mißachtet seine Subjektivität und
macht ihn zum bloßen Objekt von Pflege.
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Eine nur pflegerische Versorgung und Isolation in speziellen Pflegeeinrichtungen
oder -abteilungen läßt das in § 3 GG formulierte Grundrecht
außer acht, daß niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden darf. Sie steht darüber hinaus dem ebenfalls im Grundgesetz
verankerten REcht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
entgegen.
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Erkenntnisse der Wissenschaft und Erfahrungen der Praxis unterstreichen die
fundamentale Rolle der Pädagogik bei der lebenslangen Entwicklung
und Persönlichkeitsförderung von Menschen mit schwersten Behinderungen.
Wesentliche Aspekte sind: der Aufbau einer sozialen Beziehung, die
Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und Wünsche,
die Entwicklung nonverbaler Kommunikation, die Förderung von
Selbständigkeit und die Unterstützung von Autonomie im Alltag auf
der STufe der jeweiligen Entwicklung sowie das Einbeziehen in die Gemeinschaft.
Pflegerische Tätigkeiten sind in diesen pädagogischen Rahmen
eingebunden.
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Die Teilnahme am allgemeinen Leben in normalen Alltagssituationen
verleiht dem Dasein von Menschen mit schwersten Behinderungen Sinn. Eine
dem pädagogischen Anspruch genügende bedürfnisorientierte
enwicklungsfördernde Alltagsgestaltung ist unter den Bedingungen eines
Pflegeheims nicht möglich.
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Erfahrungen haben gezeigt, daß sich die Mißachtung grundlegender
Bedürfnisse von Menschen mit schwerster Behinderung bei einer
auschließlich auf Pflege ausgerichteten Betreuung destruktiv auf ihre
Persönlichkeitsentwicklung ausgewirkt: Psychische Störungen,
Depressionen bis hin zur Selbstaufgabe sind die Folge.
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Die mit dem Etikett "Pflegefall" einhergende Abwertung von Menschen
mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung begünstigt ihre
Aussonderung in nahezu allen Lebensbereichen (Bildung, Wohnen, Arbeit,
Freizeit). Sie nährt - auf dem Hintergrund von Kosten-Nutzen-Analysen
- die Diskussion über den Lebenswert dieser Menschen.
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Eine Konzentrierung schwer pflegebedürftiger Menschen mit geistiger
Behinderung in Pflegeheimen verstärkt Vorurteile und erzeugt
ein negatives Bild von dieser Personengruppe. Sie wird nicht als Teil
der Gesellschaft erlebt, der selbstverständlich dazu gehört und
die behinderungsbedingt notwendigen Hilfen erhält, sondern als Randgruppe,
mit der niemand etwas zu tun haben will.
Wir fordern:
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Erhalt und Weiterentwicklung der durch intesive schulische Förderung
in Gang gesetzten Persönlichkeitsentwicklung von Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen mit schwersten Behinderungen durch qualifizierte
pädagogische Unterstützung in jedem Lebensalter.
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Sicherung des Rechts auf ganzheitliche Betreuung im Sinne der
Eingliederungshilfe gemäß § 39 ff. BSHG für
pflegebedürftige Menschen mit geistiger Behinderung, unabhängig
von ihrem Alter.
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Sicherung des Rechts auf Inanspruchnahme von Wohnangeboten der
Behindertenhilfe für Menschen mit geistiger Behinderung auch
bei hohem Pflegebedarf.
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Einlösung des Anspruchs auf Leistungen der Pflegeversicherung in voller
Höhe für Menschen mit geistiger Behinderung unabhängig
vom Ort der Betreuung.