Bewährte Grundlagen der pädagogischen Arbeit mit autistischen Menschen

(Vortrag auf der 8. Bundestagung "Autismus und Familie" des Elternvereins 'Hilfe für das autistische Kind' in Baunatal vom 18. - 20. November 1994)




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Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich möchte Ihnen in der Kürze der Zeit einige Gedanken vortragen, die auf dem Hintergrund langjähriger eigener praktischer Erfahrungen, Erfahrungen im Zusammenhang mit der Beratung von Institutionen wie auch in Folge der theoretischen Reflexion der pädagogischen Arbeit mit Menschen, die als Autisten bezeichnet werden, an der Universität entstanden sind.
"Grundlagen" bezeichnet hierbei nicht die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit. Hierfür wäre ein mindestens 1-2 Tage dauerndes Programm in einer kleineren Gruppe nötig, beziehen sich die folgenden Aussagen doch auf Informationen und Erkenntnisse unter anderem aus der Systemtheorie, der Informationstheorie, der Neuropsychologie sowie der Psychoanalyse Lacanscher Prägung. Ich möchte diese Bezüge hier ausklammern und nur einige - wie ich meine - wesentliche Aspekte einer pädagogischen Arbeit auf dem Hintergrund dieser Theorien vortragen.
Wichtig ist hierbei zu bedenken, daß ich als Pädagoge vortrage, nicht als Mediziner und nicht als Therapeut, die jeweils andere Blickwinkel repräsentieren. Ich spreche damit aus dem Blickwinkel des Faches, das wohl am dauerhaftesten autistischen Menschen gegenüber tritt: im Kindergarten, in der Schule, im Wohnheim und in den Werkstätten. Aus dieser Situation ergibt sich ein besonderer Blick, der weniger gedeckt ist durch die Sicherheit von Diagnosen oder therapeutische Verfahren.
Es geht hier um die Hilfe bei der alltäglichen Bewältigung des Lebens im jeweils gegebenen Lebensraum. Es geht darum, den Sinn autistischer Verhaltensweisen am Ort und im Zusammenhang des jeweiligen Auftretens immer wieder neu zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus bedeutungsvolle Alternativen anzubieten.
Das Verhalten, das uns als 'autistisch' gegenübertritt, ist ja nicht eine Auswahl aus vielfältigen alternativen Handlungsmöglichkeiten, ist also so nicht 'gewollt', sondern stellt nur das äußere Kennzeichen einer alternativlosen Situation dar. Diese Menschen haben in dieser Situation schlicht keine andere Wahl. Nichts zeigt dies deutlicher als selbstverletzendes Verhalten. Keine Lebewesen - auch nicht der Mensch - kommt auf die Idee, dem eigenen Körper selbst so schweren Schaden zuzufügen, bestände irgendeine andere Handlungsoption.
Wie sind autistische Verhaltensweisen aber grundlegend, d.h. im Allgemeinen jenseits der individuellen Besonderheiten, der körperlichen Voraussetzungen wie der jeweiligen Lebenssituation, auf die sich die konkrete Arbeit immer beziehen muß, zu verstehen?
Ein erster wichtiger Zugang ist der, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, es ginge allen Lebewesen immer nur um ein körperlich angenehmes, quasi homöostatisches Leben in völliger Versorgung und um die bedingungslose Vermeidung von Leiden und Stress, wie es z.B. der biologisch fundierte Glücksbegriff von SINGER nahelegt. In dieser Sicht werden Menschen mit selbstverletzenden Verhaltensweisen geradezu zu 'Unmenschen', die der 'Vernunft' des Ziels körperlichen Wohlbefindens die Unvernunft ihrer Handlungen entgegen halten.
Eine andere Sicht eröffnet hier ein umfassenderes Verständnis - wie ja diese Position angesichts der freiwilligen Teilnahme von 'normalen' Menschen an Extremsportarten (Marathon, Triatlon ...) ohnehin obsolet wird.
Gehen wir als prinzipieller Voraussetzung der Selbsorganisation eines jeden Lebewesens - vor aller Suche nach Wohlbefinden und 'Glück' - erst einmal von der NOT-Wendigkeit der Herstellung und Aufrechterhaltung eines konstanten Verhältnisses zur Welt aus, so gewinnen wir einen günstigeren Blick auf die Zusammenhänge. Was ist hiermit gemeint? Es geht bei diesem konstanten Verhältnis zur Welt NICHT um ein statisches Abbild dieser Welt, sondern darum, daß sich die dynamischen Prozesse der Welt im wesentlichen der Erwartung gemäß verhalten und so dieser Welt gegenübergetreten, in ihr gehandeln werden kann. Meine Selbstorganisation, die mir als mein ICH bewußt werden kann, ist also geprägt duch Erfahrungen, die mein Körper mit all seinen Eigenarten in der Welt gemacht hat und die hieraus gebildeten Erwartungen.
So kann eine erwartete, im Sinne des biologischen Paradigmas 'negative' Erfahrung dieser Selbstorganisation mehr dienlich sein, das 'Selbstbild' mehr sichern, als eine hoffnungsvolle Situation, die nicht einschätzbar ist und in der evtl. bessere aber evtl. auch schlechtere Erfahrungen gemacht werden können, wie in der gewohnten negative Situation. (Es ist eine häufige Erfahrung, daß es Menschen gibt, die immer wieder in die gleichen Probleme geraten, sie diese geradezu herbeiführen.) Zum besseren Verständnis dieser Zusammenhänge gestatten Sie mir hier bitte ein Beispiel:
Nehmen wir an ich schulde einem Menschen 10 DM und dieser bietet mir an dieses Geld entweder unverzüglich zurückzuzahlen oder eine Münze zu werfen, wobei ich bei 'Kopf' zu den erlassenen 10 DM noch 30 DM gewinne, bei 'Zahl' aber 100 DM zurückzahlen muß. Wie würden Sie handeln? Würden Sie nicht auch das Spiel verweigern und das bekannte Übel, zahlen zu müssen, dem unbekannten Ausgang des Spieles vorziehen? Und um wie vieles wahrscheinlicher würden Sie so handeln, wenn Ihnen auch die Höhe des Gewinns und des Verlusts unbekannt wären und Sie in Ihrer Fantasie nicht mit 100 DM sondern evtl. 10.000 DM Verlust rechnen würden? Bleiben wir noch etwas bei diesem Beispiel um die Zusammenhänge noch etwas deutlicher zu machen:
Angenommen der Betrag von Gewinn und Verlust wären wie oben beschrieben bekannt, die Chancen für einen Gewinn ständen aber, statt 1:1 im Beispiel oben, 1:5 (das ist die Chance, mit einem Wurf einen Sechser zu würfeln!). Ich müßte mich schon für einen rechten Glückspilz halten, um hier auf das Angebot einzugehen. Umgekehrt ständen die Chance 5:1 (alle Zahlen außer 1 gewinnen bei einem Wurf) müßte ich schon sehr pessimistisch sein, müßte mich wirklich für einen Pechvogel halten, um nicht auf das Spiel einzugehen. Sie sehen, der Umgang mit dem Zufall, das Ergreifen von Chancen hat etwas mit Mut zu tun.
Nun sind aber die wenigsten Situationen in denen Menschen handeln rein zufällig. Vielen auf den ersten Blick unklaren, scheinbar zufälligen Prozessen liegen, wenn auch oft komplizierte, Regelungen zu Grunde. Nimmt ein Mensch häufiger an solchen Prozessen teil und wiederholen sich seine Erfahrungen in diesen Situationen so wird es ihm möglich, ein inneres Bild dieser Prozesse zu entwerfen und so sein Verhalten auf diese einstellen: dieser Mensch bildet eine Kompetenz in und gegenüber diesem Prozess aus, die diesen vorhersagbar werden läßt: Wiederholungen und Regelungen bieten also Sicherheit, vorhersagbare Situationen benötigen weniger Mut.
Diese eigentlich erfreuliche Möglichkeit, in einer primär unstrukturierten Welt Ordnungen zu finden und durch die Benutzung dieser Regeln selbst ordnend zu wirken, hat allerdings gerade im hier vorgetragenen Zusammenhang einen außerordentlich mißlichen Nebeneffekt. Findet der Bezug zur Welt in der immer wieder gleichen Form, bezogen auf immer die gleichen Regeln statt, kann sich keine Kompetenz, neue Erfahrungen in bekannte Schemata hinein zu integrieren, bilden. Ein völlig kontrollierter Vorgang schließt Neuigkeit und damit die Möglichkeit den Umgang mit Neuigkeit zu erlernen aus: Weil sich ein Mensch gegenüber Neuem nicht kompetent fühlt, bezieht er sich immer nur auf Bekanntes; weil er sich immer nur auf Bekanntes bezieht, entwikelt er keine Kompetenz im Umgang mit Neuigkeit ... ein Teufelskreis!


Ein erster Schritt, um in dieser Situation zu helfen, besteht erst einmal darin, daß sich Pädagogen, die mit 'Autisten' arbeiten wollen, darüber klar werden, daß die hier vorgestellten Überlegungen für alle Menschen gelten, also auch für sie selbst. Ja hier gelten diese sogar in besonderem Maße, da sich Menschen gegenüber autistischem Verhalten in besonderer Weise inkompetent fühlen. Das Binden des eigenen Verhaltens an die Ordnung(!) diagnostischer oder therapeutischer Schemata oder aber die Sicherheit der eigenen Alltagsvorstellungen wird hier sehr verständlich.
Dies erklärt auch die Totalität des Anspruchs und die Wirkung der immer wieder auftretenden therapeutischen Moden. Hier rücken 'neue Techniken', 'neue Mittel' in ihrem 'Heileffekt' immer wieder in den Mittelpunkt des Interesses und verbauen damit den Blick auf die konkreten Menschen, die unter schwierigsten Bedingungen ihre Begegnungen zu realisieren versuchen. Beispielhaft ist hier das bis heute an vielen Stellen starre Festhalten an der Festhaltetherapie, obwohl diese letztlich den Beweis der Wirksamkeit ihrer Technik bis heute schuldig geblieben ist.
Ebenso beispielhaft ist der Umgang mit der neuesten Mode, der 'unterstützten Kommunikation'. Das Verfahren, Menschen Sicherheit zu geben, indem Pädagogen Behinderte am Ellenbogen oder der Schulter berührt, existiert seit wenigstens 15 Jahren. Der Versuch alternative Kommunikationskanäle zu 'Autisten' und anderen Behinderten zu erschließen - über Gebärdensprache, Bliss-System, Kommunikatoren wie Computern ... - existiert wie auch die Kombination von beiden Vorgehensweisen ebenfalls seit vielen Jahren. Allein die Tatsache, daß ein Autist mit seiner Mutter dieses Verfahren nutzen konnte ein Buch zu schreiben und dieses mit entsprechender Promotion vermarktet wurde, löste einen Schwenk zu diesem Verfahren hin aus, der diesem Mittel nicht gemäß ist.
So war es sicher vor allem der Mut von Birger Sellin und seiner Mutter, sich der Neuigkeit und dem Schrecken, die das gemeinsame Schreiben für beide bedeutete haben muß, auszusetzen, die dieses Unternehmen erfolgreich werden ließ: "ohne unerkannt zu bleiben rede ich keine vernünftigen sachen alles ist lüge, 14.3.91" (Birger Sellin: "ich will kein inmich mehr sein". Köln 1993, S.91). Die reine Anwendung der Methode dagegen, der reine Bezug auf die Sicherheit der Verfahrensregeln ohne den Inhalt einer echten Begegnung, ohne evtl. die Jahre der Suche davor, die das Vertrauen in diese Begegnung vorbereitet haben mögen, bleibt leer und wird mit großer Sicherheit scheitern.
Neben solchen allgemeinen 'Modetechnologien' im Umgang mit autistischen Verhaltensweisen, existieren häufig als spezielle Ordnungen Alltagsüberzeugungen der Menschen, die regelmäßig mit Menschen mit autistischen Verhaltensweisen konfrontiert sind. So werden selten über 'nicht-autistische' Menschen so überzeugte, so sichere Aussagen gemacht, wie über Menschen mit autistischen Verhaltensweisen: 'Den Weg geht er am liebsten!', 'Er mag nur Spaghetti!', 'Wenn er nicht sofort ... bekommt, kriegt er einen Wutanfall', 'Ich kenne ihn gut (besser), er möchte jetzt eigentlich ...' aber auch: 'Sein Verhalten ist völlig unverständlich'.
Folgen die ersten vier Zitate der hier vorgestellten Logik, daß sich Menschen, durch das autistische Verhalten extrem verunsichert, an die unbedingte Wahrheit ihrer bisherigen Erfahrungen in diesem Feld klammern, so scheint die letzte Position unverständlich, scheint geradezu das Gegenteil zu behaupten: das Insistieren auf Unsicherheit. Um dies zu verstehen ist der obige Hinweis zu bedenken, daß es Menschen nicht vorrangig um positive Erfahrungen geht, sondern primär um Orientiertheit, d.h. um die Fähighkeit die Prozesse der Umwelt ausreichend genau vorherzusehen. Ist dieses nicht möglich gibt es - im Negativen - einen Ausweg, nämlich vorherzusagen, etwas sei nicht vorhersagbar (die obige Position ist also in ihrer Funktion mit den übrigen vieren gleich!). Dieses mag 'an-den-Haaren-herbeigezogen' oder profan erscheinen, stellt aber eine sehr häufige Reaktion in dieser Situation dar.
Untersuchen wir die Folgen, die die hier aufgezeigten Positionen für die Begegnung mit 'autistischen' Menschen haben, so wird deutlich, daß die gewonnene Sicherheit mit dem Abbruch einer lebendigen Beziehung erkauft wird. Im Falle der positiven Formulierungen führt die Eindeutigkeit dieser Aussagen und der an diesen ausgerichteten Handlungen zu einer Stereotypisierung dieser Vorstellung, an der der 'Autist' wie die Umgebung in gleicher Weise beteiligt sind (z.B. es gibt immer nur Spaghetti, weil sonst ...). Im Falle der negativen Formulierung ('unverstehbar') wird dagegen der Versuch, zu verstehen und d.h. letztlich die Beziehung, aufgegeben. Es kommt dabei zum einen zu einer Anpassung an das autistische Verhalten, wo dieses sich als durchsetzungsfähig genug erweist. Zum anderen werden dem 'Autisten' die Bedingungen durch die Umgebung gesetzt, ohne daß dabei Vorstellungen über den 'Autisten' zumindest advokatorisch berücksichtigt werden, da diese ja an Versuche des Verstehens, an Vorhersagen o.ä. gebunden wären.
Wir finden hier also überraschend deutlich systematische Wirkungen des autistischen Verhaltens auf die Umgebung, die diese zu einem Verhalten führen, das das autistische Verhalten weiter verstärkt wird. Autismus wird so gesehen - unabhängig von der Genese im Einzelfall - zu einem Phänomen des Feldes in dem ein Mensch mit autistischen Verhaltensweisen lebt und kann auch als solches angegangen werden.
Aus alledem wird deutlich, es gehört sehr viel Mut dazu, all diesem Wissen, das wir im Alltag und in der Auseinandersetzung mit Theorien zum Autismus angeeignet haben, diesen Menschen mit dem wir leben/arbeiten in seiner Eigen-Art gegenüber zu stellen, d.h. ihn oder sie uns wirklich überraschen zu lassen.
Sind diese Überlegungen also ein Plädoyer dafür, alle Vorstellungen fahren zu lassen? Folgt aus ihnen die - heute so häufig propagierte - Abkehr von der kognitiven Reflexion des pädagogischen Handelns und stattdessen eine Hinwendung zu einer 'ganzheitlich empathischen Offenheit' als Ausdruck der 'vollen Anerkennung der Subjektivität des Anderen'? Nein! Betrachten wir diese Position genauer finden wir nämlich in ihr die oben beschriebenen Positionen wieder:
### in der Möglichkeit eines unreflektierten(!) Verstehens die eindeutigen Festlegungen des Gegenübers auf die eigene Wahrnehmung von ihm.
### Wird diese These dagegen nicht zum Verstehen hin, sondern zu einer unendlichen Toleranz hin aufgelöst, zeigt sich diese Offenheit als inhaltsleer und es erscheint die negative Variante, die nicht überrascht werden kann, weil sie alles und nichts erwartet. Jegliche Handlung des Erziehers wäre hier in das Handeln des 'Autisten' eingebunden, da jegliche eigene Handlung des Erziehers eine bewertende Gewichtung der Situation und damit eine Verzerrung der völligen Offenheit darstellen würde.

Es zeigt sich, daß von außen gewährleistete Ordnungen zwar eine hohe Sicherheit bieten, aber die Tendenz haben - und sei sie noch so gut gemeint -, zu einer Art Diktatur zu verkommen, während die 'unendliche Offenheit' keine Sicherheiten zu bieten in der Lage ist, keine Begegnung gewährleisten kann.


Wie also handeln? Wie kann ein Mittelweg zwischen dem Überstülpen eigener Vorstellungen bzw. theoretischer Begriffe und der Unsicherheit völliger Toleranz aussehen?
Eine Möglichkeit besteht darin, die jeweiligen Annahmen offenzulegen und die aus diesen Annahmen abgeleiteten Angebote so zu gestalten, daß sie den Menschen mit autistischen Verhaltensweisen einen 'Rückkanal' eröffnen, d.h. daß die aufgestellten Regeln nicht nur auf diese Menschen bezogen Gültigkeit haben, sondern daß diese Regeln auch die sie anbietenden Personen verpflichten. Wie ist diese allgemeine Regel zu verstehen?
Nehmen wir als Beispiel die Situation in einem Wohnheim. Hier können zum einen die Erzieherinnen und Erzieher die Ordnungen nach ihrem Gutdünken festlegen - 'Wir(!) wollen heute in den Zoo gehen!' o.ä. - oder aber sie lassen die Bewohnerinnen und Bewohner weitestgehend machen was sie wollen. Beide Positionen sind pädagogisch schon für Menschen ohne autistische Verhaltensweisen nicht sinnvoll, für Menschen mit autistischen Verhaltensweisen sind sie aber direkt schädlich. Die erste Variante gibt dabei zwar Orientierungen ab, macht aber ein pädagogisch unfruchtbares stereotypes 'Einklinken' in diese Ordnung sehr wahrscheinlich. Von der zweiten Position gehen dagegen zu wenig Orientierungen aus, so daß es wahrscheinlich wird, daß die autistischen Verhaltensweisen diese Situation dominieren.
Ein erster Schritt im Sinne der allgemeinen Regel oben bestände nun darin, Wochen und/oder Tagespläne einzuführen, die nicht nur für die Bewohner des Heimes Gültigkeit haben, sondern von diesen auch bei den Betreuern eingeklagt werden können: z.B. 'Heute war ein Zoobesuch vorgesehen !!!!'. Ein weiterer Schritt wäre in diesem Plan für die Bewohner bedeutsame Alternativen vorzusehen, die sie in einem evtl. ebenfalls geregelten Verfahren auswählen können.
Natürlich können die Betreuer bei dem ersten Angebot einer neuen Regel noch nicht wissen, ob sie mit diesem einem Bewohner ein wirklich sinnvolles Angebot unterbreitet haben. Hier gilt es sich selbst für die eigene Reflexiuon und für andere VORAB(!) offenzu legen:

### warum die geplanten Angebote für einen Menschen für als sinnvoll angesehen werden
### warum die angebotene Alternative als sinnvoll angesehen wird
### welche Äußerungen als Entscheidungen für die eine oder andere Alternative angesehen werden
### welche Alternative voraussichtlich gewählt wird.

Erst das so genaue Offenlegen der Vorstellungen der Erzieher und das Arbeiten mit alternativen Orientierungen ermöglicht Menschen mit autistischen Verhaltensweisen entlang dieser Angebote ihre eigene Spur in diesen Regeln zu hinterlassen und damit ein kleines Stück weiter in die Welt der Kultur und letztlich der Sprache vorzudringen, der wir uns zwar unterwerfen müssen, um überhaupt leben zu können, die aber nur dann als human zu bezeichnen ist, wenn sie uns nicht in Eindeutigkeiten versklavt sondern sich als vielschichtig und variantenreich erweist.
Wichtig ist bei diesem Vorgehen, daß eine gewisse Sicherheit wirklich eine Nachricht von dem Menschen mit autistischen Verhaltensweisen aufgenommen zu haben und nicht den eigenen Vorstellungen aufzusitzen, erst dann gegeben ist, wenn dieser Mensch unerwartet, d.h. entgegen den Vorstellungen(!) reagiert. Dies bedeutet nicht, daß diese Nachricht immer sofort verstanden werden könnte. In Verbindung mit der Genauigkeit der Angebote ist aber nun eine Reflektion dieser neuen Erfahrung und eine hieraus folgende Veränderung der Angebote möglich.


Abschließend möchte ich mit einem weiteren Beispiel die wesentlichen Aspekte meiner Überlegungen nochmals im Zusammenhang verdeutlichen:
Wolfgang ein als Autist bezeichneter 32jähriger Mann versuchte nach einiger Zeit im Wohnheim, in der eine grundsätzliche Stabilisierung erreicht und auch die Medikamente, die im Laufe eines Aufenthaltes in der Psychiatrie notwendig waren, wesentlich zurückgenommen werden konnten, von den Betreuerinnen im Wohnheim mit massive Sachbeschädigungen Aufmerksamkeit zu erzwingen. Die Betreuerinnen empfanden ihn in solchen Momenten zugewandter als in seinen stereotypen Freizeitbeschäftigungen: einen bestimmten Waldweg entlang laufen, im Auto herumgefahren werden, einen bestimmten Katalog durchblättern usw., mochten sich aber auch nicht einfach der Gewalt seiner Ausbrüche beugen.
Wir kamen überein, daß eine Person des Teams einen Nachmittag in der Woche völlig für Wolfgang zur Verfügung stehen sollte. Der Träger war bereit, die Mehrkosten zu übernehmen. In der übrigen Zeit sollte Wolfgang mit Hilfe eines Kalenders immer wieder, besonders aber wenn er in einer Situation, in der dies nicht möglich war, die Aufmerksamkeit eines Erziehers erregen wollte, auf dieses Ereignis hingewiesen werden.
Die Befürchtungen des Teams, daß Wolfgang dieses Angebot nicht für sich würde verwerten können, bewahrheiteten sich am Anfang: Wolfgang 'wünschte' die Dinge, die die Erzieher erwarteten, die gewohnten Freizeitbeschäftigungen. Nach etwa zwölf Wochen weigerte sich Wolfgang plötzlich in dieser Zeit etwas zu wünschen. - Er wünschte sozusagen nicht zu wünschen.- Auf die Frage der Erzieherin, der die drei Stunden ohne Aktivität lange wurden, ob sie ihm nicht wenigstens etwas erzählen solle antwortete er: "Still sein!"
Dieses ging etwa sechs bis acht Wochen so. Die Erzieherin saß bei ihm, er wünschte nichts, sie schwieg. Nach diesen acht Wochen, in denen er mit seinem Wunsch, nichts zu wünschen gegenüber der Totalität des Angebots die einzig mögliche Variante, die ganz von ihm kam, gewählt hatte, hatte er so viel Vertrauen in dieses Angebot gefaßt, daß er dazu überging, nicht stereotype differenzierte Wünsche zu äußern. Um diese Möglichkeit herum stabilisierte sich dann sein gesamtes Verhalten im Wohnheim.

Es zeigt sich auch hier, daß Mensch-sein, menschliches Begegnen ein Ringen umeinander darstellt; daß die Herstellung des Dialogs mit einem Menschen mit autistischen Verhaltensweisen - wie bei jedem Menschen - an das Möglich-werden einer Spur, einer Eigen-Art in den vorgegebenen sozialen Regeln gebunden ist. Hierfür ist allerdings ausreichendes Personal, die Unterstützung der Eltern und der pädagogischen Mitarbeiter (Supervision) unabdingbar notwendig, sollen die oben beschriebenen Effekte der Selbstorganisation des Autismus vermieden werden. Gelingt dieses, so ist das tendenzielle Umkehren des oben beschriebenen Teufelskreises möglich.


Ich wünsche uns allen: Eltern, Therapeuten und Pädagogen den hierzu immer notwendigen Mut und die immer auch notwendige Hilfe von Anderen. So kann es uns gelingen, uns gegenseitig aber auch den Menschen mit autistischen Verhaltensweisen in der hier skizierten Weise immer wieder von neuem eine produktive Zumutung zu sein.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Peter Rödler (mail)

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