Bewährte Grundlagen der pädagogischen Arbeit mit autistischen Menschen
(Vortrag auf der 8. Bundestagung "Autismus und Familie" des Elternvereins 'Hilfe für das autistische Kind' in Baunatal vom 18. - 20. November 1994)
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Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich möchte Ihnen in der Kürze der Zeit einige Gedanken vortragen, die auf dem Hintergrund langjähriger eigener praktischer Erfahrungen, Erfahrungen im Zusammenhang
mit der Beratung von Institutionen wie auch in Folge der theoretischen Reflexion der
pädagogischen Arbeit mit Menschen, die als Autisten bezeichnet werden, an der Universität entstanden sind.
"Grundlagen" bezeichnet hierbei nicht die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit. Hierfür wäre ein mindestens 1-2 Tage dauerndes Programm in einer kleineren
Gruppe nötig, beziehen sich die folgenden Aussagen doch auf Informationen und Erkenntnisse unter anderem aus der Systemtheorie, der Informationstheorie, der Neuropsychologie sowie der Psychoanalyse Lacanscher Prägung. Ich möchte diese Bezüge
hier ausklammern und nur einige - wie ich meine - wesentliche Aspekte einer pädagogischen Arbeit auf dem Hintergrund dieser Theorien vortragen.
Wichtig ist hierbei zu bedenken, daß ich als Pädagoge vortrage, nicht als Mediziner und nicht als Therapeut, die jeweils andere Blickwinkel repräsentieren. Ich spreche damit aus dem Blickwinkel des Faches, das wohl am dauerhaftesten autistischen
Menschen gegenüber tritt: im Kindergarten, in der Schule, im Wohnheim und in den
Werkstätten. Aus dieser Situation ergibt sich ein besonderer Blick, der weniger gedeckt
ist durch die Sicherheit von Diagnosen oder therapeutische Verfahren.
Es geht hier um die Hilfe bei der alltäglichen Bewältigung des Lebens im jeweils gegebenen Lebensraum. Es geht darum, den Sinn autistischer Verhaltensweisen
am Ort und im Zusammenhang des jeweiligen Auftretens immer wieder neu zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus bedeutungsvolle Alternativen anzubieten.
Das Verhalten, das uns als 'autistisch' gegenübertritt, ist ja nicht eine Auswahl
aus vielfältigen alternativen Handlungsmöglichkeiten, ist also so nicht 'gewollt', sondern stellt nur das äußere Kennzeichen einer alternativlosen Situation dar. Diese Menschen haben in dieser Situation schlicht keine andere Wahl. Nichts zeigt dies deutlicher
als selbstverletzendes Verhalten. Keine Lebewesen - auch nicht der Mensch - kommt
auf die Idee, dem eigenen Körper selbst so schweren Schaden zuzufügen, bestände irgendeine andere Handlungsoption.
Wie sind autistische Verhaltensweisen aber grundlegend, d.h. im Allgemeinen
jenseits der individuellen Besonderheiten, der körperlichen Voraussetzungen wie der
jeweiligen Lebenssituation, auf die sich die konkrete Arbeit immer beziehen muß, zu
verstehen?
Ein erster wichtiger Zugang ist der, von der Vorstellung Abschied zu nehmen,
es ginge allen Lebewesen immer nur um ein körperlich angenehmes, quasi homöostatisches Leben in völliger Versorgung und um die bedingungslose Vermeidung von Leiden und Stress, wie es z.B. der biologisch fundierte Glücksbegriff von SINGER nahelegt. In dieser Sicht werden Menschen mit selbstverletzenden Verhaltensweisen geradezu zu 'Unmenschen', die der 'Vernunft' des Ziels körperlichen Wohlbefindens die
Unvernunft ihrer Handlungen entgegen halten.
Eine andere Sicht eröffnet hier ein umfassenderes Verständnis - wie ja diese
Position angesichts der freiwilligen Teilnahme von 'normalen' Menschen an Extremsportarten (Marathon, Triatlon ...) ohnehin obsolet wird.
Gehen wir als prinzipieller Voraussetzung der Selbsorganisation eines jeden
Lebewesens - vor aller Suche nach Wohlbefinden und 'Glück' - erst einmal von der
NOT-Wendigkeit der Herstellung und Aufrechterhaltung eines konstanten Verhältnisses
zur Welt aus, so gewinnen wir einen günstigeren Blick auf die Zusammenhänge. Was
ist hiermit gemeint? Es geht bei diesem konstanten Verhältnis zur Welt NICHT um ein
statisches Abbild dieser Welt, sondern darum, daß sich die dynamischen Prozesse der
Welt im wesentlichen der Erwartung gemäß verhalten und so dieser Welt gegenübergetreten, in ihr gehandeln werden kann. Meine Selbstorganisation, die mir als mein ICH
bewußt werden kann, ist also geprägt duch Erfahrungen, die mein Körper mit all seinen Eigenarten in der Welt gemacht hat und die hieraus gebildeten Erwartungen.
So kann eine erwartete, im Sinne des biologischen Paradigmas 'negative' Erfahrung dieser Selbstorganisation mehr dienlich sein, das 'Selbstbild' mehr sichern, als
eine hoffnungsvolle Situation, die nicht einschätzbar ist und in der evtl. bessere aber
evtl. auch schlechtere Erfahrungen gemacht werden können, wie in der gewohnten negative Situation. (Es ist eine häufige Erfahrung, daß es Menschen gibt, die immer wieder in die gleichen Probleme geraten, sie diese geradezu herbeiführen.) Zum besseren
Verständnis dieser Zusammenhänge gestatten Sie mir hier bitte ein Beispiel:
Nehmen wir an ich schulde einem Menschen 10 DM und dieser bietet mir an
dieses Geld entweder unverzüglich zurückzuzahlen oder eine Münze zu werfen, wobei
ich bei 'Kopf' zu den erlassenen 10 DM noch 30 DM gewinne, bei 'Zahl' aber 100
DM zurückzahlen muß. Wie würden Sie handeln? Würden Sie nicht auch das Spiel
verweigern und das bekannte Übel, zahlen zu müssen, dem unbekannten Ausgang des
Spieles vorziehen? Und um wie vieles wahrscheinlicher würden Sie so handeln, wenn
Ihnen auch die Höhe des Gewinns und des Verlusts unbekannt wären und Sie in Ihrer
Fantasie nicht mit 100 DM sondern evtl. 10.000 DM Verlust rechnen würden? Bleiben
wir noch etwas bei diesem Beispiel um die Zusammenhänge noch etwas deutlicher zu
machen:
Angenommen der Betrag von Gewinn und Verlust wären wie oben beschrieben
bekannt, die Chancen für einen Gewinn ständen aber, statt 1:1 im Beispiel oben, 1:5
(das ist die Chance, mit einem Wurf einen Sechser zu würfeln!). Ich müßte mich schon
für einen rechten Glückspilz halten, um hier auf das Angebot einzugehen. Umgekehrt
ständen die Chance 5:1 (alle Zahlen außer 1 gewinnen bei einem Wurf) müßte ich
schon sehr pessimistisch sein, müßte mich wirklich für einen Pechvogel halten, um
nicht auf das Spiel einzugehen. Sie sehen, der Umgang mit dem Zufall, das Ergreifen
von Chancen hat etwas mit Mut zu tun.
Nun sind aber die wenigsten Situationen in denen Menschen handeln rein zufällig. Vielen auf den ersten Blick unklaren, scheinbar zufälligen Prozessen liegen, wenn
auch oft komplizierte, Regelungen zu Grunde. Nimmt ein Mensch häufiger an solchen
Prozessen teil und wiederholen sich seine Erfahrungen in diesen Situationen so wird es
ihm möglich, ein inneres Bild dieser Prozesse zu entwerfen und so sein Verhalten auf
diese einstellen: dieser Mensch bildet eine Kompetenz in und gegenüber diesem Prozess aus, die diesen vorhersagbar werden läßt: Wiederholungen und Regelungen bieten
also Sicherheit, vorhersagbare Situationen benötigen weniger Mut.
Diese eigentlich erfreuliche Möglichkeit, in einer primär unstrukturierten Welt
Ordnungen zu finden und durch die Benutzung dieser Regeln selbst ordnend zu wirken,
hat allerdings gerade im hier vorgetragenen Zusammenhang einen außerordentlich mißlichen Nebeneffekt. Findet der Bezug zur Welt in der immer wieder gleichen Form,
bezogen auf immer die gleichen Regeln statt, kann sich keine Kompetenz, neue Erfahrungen in bekannte Schemata hinein zu integrieren, bilden. Ein völlig kontrollierter
Vorgang schließt Neuigkeit und damit die Möglichkeit den Umgang mit Neuigkeit zu
erlernen aus: Weil sich ein Mensch gegenüber Neuem nicht kompetent fühlt, bezieht er
sich immer nur auf Bekanntes; weil er sich immer nur auf Bekanntes bezieht, entwikelt er keine Kompetenz im Umgang mit Neuigkeit ... ein Teufelskreis!
Ein erster Schritt, um in dieser Situation zu helfen, besteht erst einmal darin,
daß sich Pädagogen, die mit 'Autisten' arbeiten wollen, darüber klar werden, daß die
hier vorgestellten Überlegungen für alle Menschen gelten, also auch für sie selbst. Ja
hier gelten diese sogar in besonderem Maße, da sich Menschen gegenüber autistischem
Verhalten in besonderer Weise inkompetent fühlen. Das Binden des eigenen Verhaltens
an die Ordnung(!) diagnostischer oder therapeutischer Schemata oder aber die Sicherheit der eigenen Alltagsvorstellungen wird hier sehr verständlich.
Dies erklärt auch die Totalität des Anspruchs und die Wirkung der immer wieder auftretenden therapeutischen Moden. Hier rücken 'neue Techniken', 'neue Mittel'
in ihrem 'Heileffekt' immer wieder in den Mittelpunkt des Interesses und verbauen
damit den Blick auf die konkreten Menschen, die unter schwierigsten Bedingungen ihre
Begegnungen zu realisieren versuchen. Beispielhaft ist hier das bis heute an vielen
Stellen starre Festhalten an der Festhaltetherapie, obwohl diese letztlich den Beweis der
Wirksamkeit ihrer Technik bis heute schuldig geblieben ist.
Ebenso beispielhaft ist der Umgang mit der neuesten Mode, der 'unterstützten
Kommunikation'. Das Verfahren, Menschen Sicherheit zu geben, indem Pädagogen
Behinderte am Ellenbogen oder der Schulter berührt, existiert seit wenigstens 15 Jahren. Der Versuch alternative Kommunikationskanäle zu 'Autisten' und anderen Behinderten zu erschließen - über Gebärdensprache, Bliss-System, Kommunikatoren wie
Computern ... - existiert wie auch die Kombination von beiden Vorgehensweisen ebenfalls seit vielen Jahren. Allein die Tatsache, daß ein Autist mit seiner Mutter dieses
Verfahren nutzen konnte ein Buch zu schreiben und dieses mit entsprechender Promotion vermarktet wurde, löste einen Schwenk zu diesem Verfahren hin aus, der diesem
Mittel nicht gemäß ist.
So war es sicher vor allem der Mut von Birger Sellin und seiner Mutter, sich
der Neuigkeit und dem Schrecken, die das gemeinsame Schreiben für beide bedeutete
haben muß, auszusetzen, die dieses Unternehmen erfolgreich werden ließ: "ohne unerkannt zu bleiben rede ich keine vernünftigen sachen alles ist lüge, 14.3.91" (Birger
Sellin: "ich will kein inmich mehr sein". Köln 1993, S.91). Die reine Anwendung der
Methode dagegen, der reine Bezug auf die Sicherheit der Verfahrensregeln ohne den
Inhalt einer echten Begegnung, ohne evtl. die Jahre der Suche davor, die das Vertrauen
in diese Begegnung vorbereitet haben mögen, bleibt leer und wird mit großer Sicherheit scheitern.
Neben solchen allgemeinen 'Modetechnologien' im Umgang mit autistischen
Verhaltensweisen, existieren häufig als spezielle Ordnungen Alltagsüberzeugungen der
Menschen, die regelmäßig mit Menschen mit autistischen Verhaltensweisen konfrontiert sind. So werden selten über 'nicht-autistische' Menschen so überzeugte, so sichere
Aussagen gemacht, wie über Menschen mit autistischen Verhaltensweisen: 'Den
Weg geht er am liebsten!', 'Er mag nur Spaghetti!', 'Wenn er nicht sofort ... bekommt,
kriegt er einen Wutanfall', 'Ich kenne ihn gut (besser), er möchte jetzt eigentlich ...'
aber auch: 'Sein Verhalten ist völlig unverständlich'.
Folgen die ersten vier Zitate der hier vorgestellten Logik, daß sich Menschen,
durch das autistische Verhalten extrem verunsichert, an die unbedingte Wahrheit ihrer
bisherigen Erfahrungen in diesem Feld klammern, so scheint die letzte Position unverständlich, scheint geradezu das Gegenteil zu behaupten: das Insistieren auf Unsicherheit. Um dies zu verstehen ist der obige Hinweis zu bedenken, daß es Menschen nicht
vorrangig um positive Erfahrungen geht, sondern primär um Orientiertheit, d.h. um die
Fähighkeit die Prozesse der Umwelt ausreichend genau vorherzusehen. Ist dieses nicht
möglich gibt es - im Negativen - einen Ausweg, nämlich vorherzusagen, etwas sei
nicht vorhersagbar (die obige Position ist also in ihrer Funktion mit den übrigen vieren
gleich!). Dieses mag 'an-den-Haaren-herbeigezogen' oder profan erscheinen, stellt aber
eine sehr häufige Reaktion in dieser Situation dar.
Untersuchen wir die Folgen, die die hier aufgezeigten Positionen für die Begegnung mit 'autistischen' Menschen haben, so wird deutlich, daß die gewonnene Sicherheit mit dem Abbruch einer lebendigen Beziehung erkauft wird. Im Falle der positiven
Formulierungen führt die Eindeutigkeit dieser Aussagen und der an diesen ausgerichteten Handlungen zu einer Stereotypisierung dieser Vorstellung, an der der 'Autist' wie
die Umgebung in gleicher Weise beteiligt sind (z.B. es gibt immer nur Spaghetti, weil
sonst ...). Im Falle der negativen Formulierung ('unverstehbar') wird dagegen der Versuch, zu verstehen und d.h. letztlich die Beziehung, aufgegeben. Es kommt dabei zum
einen zu einer Anpassung an das autistische Verhalten, wo dieses sich als durchsetzungsfähig genug erweist. Zum anderen werden dem 'Autisten' die Bedingungen durch
die Umgebung gesetzt, ohne daß dabei Vorstellungen über den 'Autisten' zumindest
advokatorisch berücksichtigt werden, da diese ja an Versuche des Verstehens, an Vorhersagen o.ä. gebunden wären.
Wir finden hier also überraschend deutlich systematische Wirkungen des autistischen Verhaltens auf die Umgebung, die diese zu einem Verhalten führen, das das
autistische Verhalten weiter verstärkt wird. Autismus wird so gesehen - unabhängig
von der Genese im Einzelfall - zu einem Phänomen des Feldes in dem ein Mensch mit
autistischen Verhaltensweisen lebt und kann auch als solches angegangen werden.
Aus alledem wird deutlich, es gehört sehr viel Mut dazu, all diesem Wissen, das
wir im Alltag und in der Auseinandersetzung mit Theorien zum Autismus angeeignet
haben, diesen Menschen mit dem wir leben/arbeiten in seiner Eigen-Art gegenüber zu
stellen, d.h. ihn oder sie uns wirklich überraschen zu lassen.
Sind diese Überlegungen also ein Plädoyer dafür, alle Vorstellungen fahren zu
lassen? Folgt aus ihnen die - heute so häufig propagierte - Abkehr von der kognitiven
Reflexion des pädagogischen Handelns und stattdessen eine Hinwendung zu einer
'ganzheitlich empathischen Offenheit' als Ausdruck der 'vollen Anerkennung der Subjektivität des Anderen'? Nein! Betrachten wir diese Position genauer finden wir nämlich in ihr die oben beschriebenen Positionen wieder:
### in der Möglichkeit eines unreflektierten(!) Verstehens die eindeutigen Festlegungen des Gegenübers auf die eigene Wahrnehmung von ihm.
### Wird diese These dagegen nicht zum Verstehen hin, sondern zu einer
unendlichen Toleranz hin aufgelöst, zeigt sich diese Offenheit
als inhaltsleer und es erscheint die negative Variante, die nicht
überrascht werden kann, weil sie alles und nichts erwartet.
Jegliche Handlung des Erziehers wäre hier in das Handeln des 'Autisten'
eingebunden, da jegliche eigene Handlung des Erziehers eine bewertende
Gewichtung der Situation und damit eine Verzerrung der völligen
Offenheit darstellen würde.
Es zeigt sich, daß von außen gewährleistete Ordnungen zwar eine hohe Sicherheit
bieten, aber die Tendenz haben - und sei sie noch so gut gemeint -, zu einer Art Diktatur zu verkommen, während die 'unendliche Offenheit' keine Sicherheiten zu bieten in
der Lage ist, keine Begegnung gewährleisten kann.
Wie also handeln? Wie kann ein Mittelweg zwischen dem Überstülpen eigener
Vorstellungen bzw. theoretischer Begriffe und der Unsicherheit völliger Toleranz aussehen?
Eine Möglichkeit besteht darin, die jeweiligen Annahmen offenzulegen und die
aus diesen Annahmen abgeleiteten Angebote so zu gestalten, daß sie den Menschen
mit autistischen Verhaltensweisen einen 'Rückkanal' eröffnen, d.h. daß die aufgestellten Regeln nicht nur auf diese Menschen bezogen Gültigkeit haben, sondern daß diese
Regeln auch die sie anbietenden Personen verpflichten. Wie ist diese allgemeine Regel
zu verstehen?
Nehmen wir als Beispiel die Situation in einem Wohnheim. Hier können zum
einen die Erzieherinnen und Erzieher die Ordnungen nach ihrem Gutdünken festlegen
- 'Wir(!) wollen heute in den Zoo gehen!' o.ä. - oder aber sie lassen die Bewohnerinnen und Bewohner weitestgehend machen was sie wollen. Beide Positionen sind pädagogisch schon für Menschen ohne autistische Verhaltensweisen nicht sinnvoll, für
Menschen mit autistischen Verhaltensweisen sind sie aber direkt schädlich. Die erste
Variante gibt dabei zwar Orientierungen ab, macht aber ein pädagogisch unfruchtbares
stereotypes 'Einklinken' in diese Ordnung sehr wahrscheinlich. Von der zweiten Position gehen dagegen zu wenig Orientierungen aus, so daß es wahrscheinlich wird, daß
die autistischen Verhaltensweisen diese Situation dominieren.
Ein erster Schritt im Sinne der allgemeinen Regel oben bestände nun darin, Wochen und/oder Tagespläne einzuführen, die nicht nur für die Bewohner des Heimes Gültigkeit haben, sondern von diesen auch bei den Betreuern eingeklagt werden können: z.B.
'Heute war ein Zoobesuch vorgesehen !!!!'. Ein weiterer Schritt wäre in diesem Plan
für die Bewohner bedeutsame Alternativen vorzusehen, die sie in einem evtl. ebenfalls
geregelten Verfahren auswählen können.
Natürlich können die Betreuer bei dem ersten Angebot einer neuen Regel noch
nicht wissen, ob sie mit diesem einem Bewohner ein wirklich sinnvolles Angebot unterbreitet haben. Hier gilt es sich selbst für die eigene Reflexiuon und für andere VORAB(!) offenzu legen:
### warum die geplanten Angebote für einen Menschen für als sinnvoll angesehen werden
### warum die angebotene Alternative als sinnvoll angesehen wird
### welche Äußerungen als Entscheidungen für die eine oder andere Alternative angesehen
werden
### welche Alternative voraussichtlich gewählt wird.
Erst das so genaue Offenlegen der Vorstellungen der Erzieher und das Arbeiten mit
alternativen Orientierungen ermöglicht Menschen mit autistischen Verhaltensweisen
entlang dieser Angebote ihre eigene Spur in diesen Regeln zu hinterlassen und damit
ein kleines Stück weiter in die Welt der Kultur und letztlich der Sprache vorzudringen,
der wir uns zwar unterwerfen müssen, um überhaupt leben zu können, die aber nur
dann als human zu bezeichnen ist, wenn sie uns nicht in Eindeutigkeiten versklavt
sondern sich als vielschichtig und variantenreich erweist.
Wichtig ist bei diesem Vorgehen, daß eine gewisse Sicherheit wirklich eine
Nachricht von dem Menschen mit autistischen Verhaltensweisen aufgenommen zu
haben und nicht den eigenen Vorstellungen aufzusitzen, erst dann gegeben ist, wenn
dieser Mensch unerwartet, d.h. entgegen den Vorstellungen(!) reagiert. Dies bedeutet
nicht, daß diese Nachricht immer sofort verstanden werden könnte. In Verbindung mit
der Genauigkeit der Angebote ist aber nun eine Reflektion dieser neuen Erfahrung und
eine hieraus folgende Veränderung der Angebote möglich.
Abschließend möchte ich mit einem weiteren Beispiel die wesentlichen Aspekte
meiner Überlegungen nochmals im Zusammenhang verdeutlichen:
Wolfgang ein als Autist bezeichneter 32jähriger Mann versuchte nach einiger
Zeit im Wohnheim, in der eine grundsätzliche Stabilisierung erreicht und auch die
Medikamente, die im Laufe eines Aufenthaltes in der Psychiatrie notwendig waren,
wesentlich zurückgenommen werden konnten, von den Betreuerinnen im Wohnheim
mit massive Sachbeschädigungen Aufmerksamkeit zu erzwingen. Die Betreuerinnen
empfanden ihn in solchen Momenten zugewandter als in seinen stereotypen Freizeitbeschäftigungen: einen bestimmten Waldweg entlang laufen, im Auto herumgefahren
werden, einen bestimmten Katalog durchblättern usw., mochten sich aber auch nicht
einfach der Gewalt seiner Ausbrüche beugen.
Wir kamen überein, daß eine Person des Teams einen Nachmittag in der Woche
völlig für Wolfgang zur Verfügung stehen sollte. Der Träger war bereit, die Mehrkosten zu übernehmen. In der übrigen Zeit sollte Wolfgang mit Hilfe eines Kalenders
immer wieder, besonders aber wenn er in einer Situation, in der dies nicht möglich
war, die Aufmerksamkeit eines Erziehers erregen wollte, auf dieses Ereignis hingewiesen werden.
Die Befürchtungen des Teams, daß Wolfgang dieses Angebot nicht für sich
würde verwerten können, bewahrheiteten sich am Anfang: Wolfgang 'wünschte' die
Dinge, die die Erzieher erwarteten, die gewohnten Freizeitbeschäftigungen. Nach etwa
zwölf Wochen weigerte sich Wolfgang plötzlich in dieser Zeit etwas zu wünschen. - Er
wünschte sozusagen nicht zu wünschen.- Auf die Frage der Erzieherin, der die drei
Stunden ohne Aktivität lange wurden, ob sie ihm nicht wenigstens etwas erzählen solle
antwortete er: "Still sein!"
Dieses ging etwa sechs bis acht Wochen so. Die Erzieherin saß bei ihm, er
wünschte nichts, sie schwieg. Nach diesen acht Wochen, in denen er mit seinem
Wunsch, nichts zu wünschen gegenüber der Totalität des Angebots die einzig mögliche
Variante, die ganz von ihm kam, gewählt hatte, hatte er so viel Vertrauen in dieses
Angebot gefaßt, daß er dazu überging, nicht stereotype differenzierte Wünsche zu äußern. Um diese Möglichkeit herum stabilisierte sich dann sein gesamtes Verhalten im
Wohnheim.
Es zeigt sich auch hier, daß Mensch-sein, menschliches Begegnen ein Ringen umeinander darstellt; daß die Herstellung des Dialogs mit einem Menschen mit autistischen
Verhaltensweisen - wie bei jedem Menschen - an das Möglich-werden einer Spur,
einer Eigen-Art in den vorgegebenen sozialen Regeln gebunden ist. Hierfür ist allerdings ausreichendes Personal, die Unterstützung der Eltern und der pädagogischen Mitarbeiter (Supervision) unabdingbar notwendig, sollen die oben beschriebenen Effekte
der Selbstorganisation des Autismus vermieden werden. Gelingt dieses, so ist das tendenzielle Umkehren des oben beschriebenen Teufelskreises möglich.
Ich wünsche uns allen: Eltern, Therapeuten und Pädagogen den hierzu immer
notwendigen Mut und die immer auch notwendige Hilfe von Anderen. So kann es uns
gelingen, uns gegenseitig aber auch den Menschen mit autistischen Verhaltensweisen
in der hier skizierten Weise immer wieder von neuem eine produktive Zumutung zu
sein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Peter Rödler (mail)
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