Hans Brügelmann
Die Öffnung des Unterrichts muß radikaler gedacht, aber auch klarer
strukturiert werden
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© Libelle Verlag, 1997
Kommentar
Der vorliegende Text zeigt in konkreter Weise
Möglichkeiten der Öffnung des Unterrichts. Brügelmann beschreibt
aus konstruktivistischer Sicht eine Systematik des Unterrichts, die einen
"Lernraum statt eines Lehrgangs" aufzeigt. "Öffnung des Unterrichts
bedeutet den Verzicht auf eine pädagogische Allmacht, die Begriffe wie
"Diagnose", "Kontrolle", und "Förderprogramm" nahelegen. Ich spreche lieber
von "Beobachtungs- und Deutungshilfen", von "methodischen Ideen" (H. B.). Die
Frage nach Mitbestimmung von SchülerInnen wird ebenso behandelt, wie die
Frage nach den Grenzen. Am Beispiel des Anfangsunterrichts, vor allem im Lesen
und Schreiben, wird die Rolle von LehrerInnen konkret erläutert.
Der Artikel zählt durch seinen praktischen,
konzentrierten und weiterführenden Inhalt zu den aufschlussreichsten
Beiträgen im Bereich neuer Unterrichtsformen. (R. B. für
bidok, 16. Aug. 1999)
"Ein Curriculum ist also der Entwurf eines relativ
geschlossenen Lernsystems [...] ein bestimmtes System der Lernwege mit
sachstrukturellen Aufgabensequenzen im Hinblick auf die erwarteten Endleistungen
..."
(Tütken 1970, 59, 57)
Gegen diese Vorstellung einer durch ExpertInnen legitimierten
Planung des Unterrichts wurde schon Anfang der 70er Jahre der Anspruch einer
Offenheit von Unterricht geltend gemacht (Brügelmann 1972; Zeitschrift
für Pädagogik 3/1973; Deutscher Bildungsrat 1974; Garlichs u. a.
1974).
Dabei in es vor allem um die Geltungsansprüche und die
Planungsdichte von schulextern entwickelten Lehrplänen, Curricula und
didaktischen Materialien. Die überzogenen Planungsansprüche von
Politik und Verwaltung einerseits und von Forschung und Entwicklung andererseits
konnten damals abgewehrt werden: Lehrerinnen haben heute erhebliche
Freiräume für die Gestaltung des Unterrichts gewonnen (auch wenn die
materiellen Bedingungen ihre Nutzung vielerorts erschweren).
Aber ist damit auch im Unterricht die Möglichkeit
gewachsen, daß Kinder persönlich bedeutsame Erfahrungen und Fragen
einbringen, individuelle Wege des Lernens gehen können, Verantwortung
für ihre Arbeit übernehmen können?
Die (wenigen) empirischen Untersuchungen stimmen eher
pessimistisch: je nach Härte des Kriteriums sind es allenfalls 1-25 % der
LehrerInnen bzw. der Unterrichtsanteile, die sich an offenen
Unterrichtskonzeptionen orientieren (vgl. Richter 1993d; Herff 1994;
Könnecke/May 1994; Brügelmann 1996d). Immer noch ist der Aufbau
von Lehrwerken an fachliche Strukturen gebunden, sind Aufgaben stereotyp und auf
blinde Wiederholung angelegt; immer noch orientiert sich der Unterricht an einer
Alltagspsychologie, die Lehren und Lernen als "Transport" von Wissen und
Können versteht; immer noch gewähren eingeschliffene Rollenbilder und
Arbeitsformen den SchülerInnen kaum Räume für selbständiges
Handeln und Mitverantwortung von Entscheidungen (vgl. die Zusammenfassung
empirischer Daten bei Meyer 1987a, 134-135, 1987b,
60-63).
Dennoch sehen manche die Zeit gekommen, auf die Bremse zu
treten, weil das Pendel schon zu weit geschwungen sei: "Die methodische
Öffnung ist vielerorts erfolgreich vollzogen. Es soll nun auch darum gehen,
sich dem Inhalt (der Sache) zuzuwenden, um ihn für die Kinder nutzbar zu
machen." (Dierekes 1994)
Ich setze entschieden dagegen: Wir müssen "Offenheit"
anspruchsvoller, aber auch präziser
bestimmen
[1]. Zugleich müssen wir deutlicher
machen, daß Offenheit Strukturen nicht ausschließt, sondern im
Gegenteil geradezu voraussetzt. Schließlich müssen wir für die
Entwicklung solcher Strukturen dieselbe Fantasie und Hartnäckigkeit
aufbringen wie für die Erfindung offener Aufgaben und
Lernsituationen.
Unterschiedliche (Miß-)Verständnisse von "Öffnung" des
Unterrichts
Viele PädagogInnen verstehen offenen Unterricht sehr eng
(und überschätzen damit die erreichten Öffnungsgrade, vgl. die
Differenz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung in der Untersuchung von
Hanke 1996, 34). Sie sehen Öffnung nur methodisch-organisatorisch,
d.h. als eine Form der inneren Differenzierung, und verlagern die Steuerung des
Lernens aus ihrer Person lediglich in das Material (s. auch Peschel
1995/96).
Andere, vor allem KritikerInnen der Öffnung, fassen sie
zu weit. Sie unterstellen, jedes Kind könne im offenen Unterricht machen,
was es wolle, und die Lehrerin gucke nur zu. Überdies werde das heute
besonders wichtige soziale Lernen auf dem Altar verabsolutierter
Individualisierung geopfert.
Den beiden (Miß-)Verständnissen will ich im
folgenden entgegentreten, indem ich
- drei Dimensionen (und zugleich Entwicklungsstufen) qualitativ
unterschiedlicher Öffnung bestimme;
- die Spannung des Doppelbegriffs
"Offener Unterricht" als Anforderung an die Lehrerrolle genauer
herausarbeite;
- verschiedene Formen der Strukturierung von offenem Unterricht
auf vier Ebenen vorstelle.
Dabei möchte ich die meist fachdidaktisch eingeengte
Diskussion ("Lernen Kinder [Lesen, Rechnen, ... ] im offenen Unterricht
schlechter oder besser?") erweitern um normative Anforderungen an Unterricht in
der Demokratie, indem ich die Frage aufwerfe, welches Maß an Mitbestimmung
und Mitverantwortung Kindern als jungen MitbürgerInnen zusteht und wie
Unterricht dazu beitragen kann, ihre Selbständigkeit und ihre Entwicklung
zu einer selbstbewußten Person zu stützen (s. vor allem
B4).
A) Drei Dimensionen der Öffnung des Unterrichts
Im folgenden werden drei Dimensionen der Öffnung von
Unterricht untersucht:
- die erste lernpsychologisch und didaktisch
begründet durch das Kriterium der "Passung" von Aufgaben im Unterricht auf
den Entwicklungsstand des Kindes (Heckhausen 1968; 1972; Aebli
1969);
- die zweite erkenntnistheoretisch und
entwicklungspsychologisch begründet durch eine konstruktivistische Sicht
von Lernen (Piaget 1970/1973; Glasersfeld
1995);
- die dritte bildungstheoretisch und
politisch begründet durch das Kriterium der Selbständigkeit als Ziel
und Bedingung schulischen Lernens (Dewey 1916/64; Heymann
1996).
Theoretisch (im Sinne zunehmender pädagogischer
Qualität) und pragmatisch (im Sinne zunehmender Anforderungen in der
beruflichen und persönlichen Entwicklung einer Lehrperson) beschreibe ich
die drei Dimensionen als Stufen wobei die höheren die niedrigeren
einschließen. Diese Sicht erlaubt LehrerInnen eine Veränderung ihres
Unterrichts in Schritten, von denen schon der erste bedeutsam ist - wenn er im
Blick auf den letzten als Annäherung an das Ziel und nicht schon als
Erfüllung des Anspruchs verstanden wird.
A1) Öffnung des Unterrichts für Unterschiede zwischen den Kindern
("methodisch-organisatorische Öffnung" des
Unterrichts)
Unterschiede zwischen Kindern beeinflussen in verschiedener
Hinsicht den Erfolg beim Lernen:
- unterschiedliches Wissen und Können aus der
jeweiligen Biografie bestimmen die (fehlende) Passung von Aufgabe und
Leistungsstand;
- unterschiedliche Lernstile
verlangen verschiedene Zugangsmöglichkeiten und
Aneignungsweisen;
- unterschiedliches Arbeitstempo
bestimmt Dauer bzw. Menge der leistbaren
Arbeit.
Innere Differenzierung des Unterrichts ist deshalb eine alte
Forderung, die aber häufig mit einer starken Lenkung durch die Lehrperson
einhergeht (Diagnose des Lernstandes, Zuweisung von spezifischen Aufgaben,
Kontrolle der Annäherung an genau definierte Teilziele; vgl. zur Abgrenzung
dieser Art der "Individualisierung" von Individualisierung in Konzepten offenen
Unterrichts Einsiedler 1988; Brinkmann/Brügelmann 1992).
In unseren Befragungen von PädagogInnen war die enge
Bestimmung einer Individualisierung "von oben" weit verbreitet (die im folgenden
berichteten Ergebnisse beziehen sich noch auf die Pilotstudien 1995):
[2] Rund zwei Drittel der LehrerInnen verbinden
den Begriff "Öffnung" mit einem Eingehen auf die Leistungsunterschiede
zwischen den SchülerInnen.
Wie kann das konkret aussehen?
Ich will diese Sicht für zwei Schlüsselbegriffe
konkretisieren, die in der didaktischen Diskussion sehr verschieden verstanden
werden. Mit "Freiarbeit" werden den Kindern - je nach Konzeption unterschiedlich
große - Handlungsräume im Unterricht eröffnet; der "Wochenplan"
ist eine Organisationsform, um diese Freiräume - unterschiedlich stark - zu
strukturieren.
Nach dem hier (A1) diskutierten methodischen
Verständnis der Öffnung von Unterricht könnte ein "Wochenplan" z.
B. folgendermaßen aussehen:
Die Aufgaben werden den SchülerInnen vorgegeben
- entweder für alle
gleich,
- oder mit Alternativen zur individuellen
Auswahl
- oder einzelnen Kinder(gruppen) - nach
ihrem Leistungsstand - von der Lehrerin
zugewiesen.
Auch der Weg der Bearbeitung und das richtige Ergebnis stehen
fest.
Nehmen wir das Beispiel Schreiben: Das Thema stellt die
Lehrerin (z.B. "Im Zoo"), auch die Form der Bearbeitung legt sie fest (z. B. ein
"Bericht", dessen formale Merkmale vorweg erarbeitet wurden). Aber wann die
Kinder schreiben, wie lange sie brauchen, welche Hilfsmittel sie nutzen, steht
ihnen - innerhalb der ausgewiesenen Zeiten - frei.
Kritisch ist anzumerken: Solche Wahlmöglichkeiten sagen
noch nichts über die Qualität der Aufgaben selbst aus: z. B. über
ihre Bedeutsamkeit für das einzelne Kind; über die Möglichkeiten,
sich zu fordern, Neues zu erfahren, individuelle Neigungen zur Geltung zu
bringen.
Viele Materialien "für Freiarbeit" beschränken sich
nämlich darauf, Aufgaben aus Rechenbüchern oder aus Arbeitsheften zum
Lesen bzw. Rechtschreiben in Karteiform auszulegen. Die Aufgaben selbst sind
genauso geschlossen wie in den Schulbüchern. Was zählt, ist auch hier
das richtige Ergebnis. Zwar wird von Selbstkontrolle gesprochen, gemeint ist
aber eine "Kontrolle durch das Material", in das die Lehrperson oder die
Programmentwickler eine bestimmte Lösung eingebaut haben.
Für viele Kinder ist schon das ein Vorteil: Sie sind
nicht mehr abhängig von Lob oder Tadel einer Person. Sie können ihre
Vorstellungen austesten und sehen am Erfolg, ob sie richtig gedacht haben. Die
Auseinandersetzung mit der Sache wird also nicht überlagert durch
Beziehungsprobleme.
Einfache Ordnungen im Wahrnehmungsbereich können so
vermittelt werden (vgl. das Sinnesmaterial von Montessori). Auch bei der
Automatisierung von (vorher) verstandenen Operationen in der Mathematik, beim
Lesen oder Rechtschreiben, also in der Übungsphase des Lernprozesses,
können zeitlich begrenzte Aufgaben dieser Art, z. B. in Form von
didaktischen Spielen, Sinn machen.
Individuelle Ideen oder ein Austausch unterschiedlicher
Sichtweisen zwischen den Kindern werden dagegen weder gefördert noch
gefordert.
A2) Öffnung zur persönlichen Erfahrungswelt der Kinder
("didaktisch-inhaltliche Öffnung" von
Unterricht)
Einen Schritt weiter führt die Einsicht, daß Lernen
eigenaktives Konstruieren, nicht bloßes Kopieren von Lösungen
bedeutet (vgl. die grammatischen und orthographischen Übergeneralisierungen
beim Sprach- und Schrifterwerb oder die "Umweg"-Strategien bei halbschriftlichem
Rechnen, die Hengartner, Selter, Spiegel und andere durch
Überforderungsaufgaben herausgefunden haben). Jede neue Erfahrung wird im
Zusammenhang der bereits entwickelten Vorstellungen und Deutungsmuster
interpretiert, und die Bedeutsamkeit einer Erfahrung hat mit ihrem Bezug auf die
alltägliche Lebenswelt der Kinder zu tun. Daraus folgt, daß es auch
im Unterricht nicht bei der Wahl zwischen (geschlossenen) Aufgaben bleiben kann,
sondern daß sich ihre Qualität ändern muß. Nicht nur die
Arbeitsbedingungen, auch die Aufgaben selbst müssen offen, d. h.
anspruchsvoller werden, Raum für selbständiges Denken und einen
inhaltlichen Bezug zu der Erfahrungswelt der Kinder eröffnen.
Von den LehrerInnen unserer Befragung assoziiert nur noch
knapp die Hälfte solche Vorstellungen mit dem Begriff "Öffnung des
Unterrichts" (gegenüber zwei Drittel bei Al).
Im Blick auf die Realisierung dieser Ansprüche im
Unterricht scheint sich das stärker organisatorische Verständnis noch
stärker durchzusetzen. Als "weitgehend umgesetzte" nennen 30-50 % der
Lehrer organisatorisch-methodische Aspekte, während Formen
didaktisch-inhaltlicher Öffnung nur einen Realisierungsgrad von 10 - 15 %
erreichen.
Was unterscheidet nun die inhaltliche Öffnung mit der
methodischen Differenzierung konkret?
Das Weiterführende wird anschaulich im Kontrast von
Freinets Werkstätten zu Montessoris "vorbereiteter Umgebung"
didaktisch eindeutig definierter Materialien (= Al), in seinem
bewußten Ausbruch in die außerschulische Welt als Lernfeld, im
Alltagsmaterial, das er zum Ausgangspunkt der Arbeit im Klassenzimmer macht, und
in der Korrespondenz mit anderen Klassen als sozialer Rahmung des
Lernens.
Das (oben unter A1) zitierte "Schreiben von Texten"
würde auf dieser Stufe der Öffnung insofern eine neue Qualität
gewinnen, als die Kinder auch Inhalt und Form von Texten selbst bestimmen. Sie
machen zum Thema, was sie persönlich beschäftigt, und stellen es so
dar, wie sie andere glauben ansprechen zu können. Nach diesem
Verständnis von Öffnung des Unterrichts könnte ein "Wochenplan" -
anders als oben (A1) beschrieben - so aussehen, daß zwar
Aufgabentypen vorgegeben sind, z. B. "Arbeit an der Rechtschreibung von
Wörtern", aber daß die Kinder selbst entscheiden, ob sie einzelne
Wörter üben ("eigene", die sie häufig brauchen, oder schwierige,
in denen sie immer wieder Fehler machen) oder ob sie einer "Forschungsfrage"
nachgehen (z.B. "Wie wird das /i:/ in der Regel verschriftet?"). Auch die Form
des Übens könnten sie selbst bestimmen (Partnerdiktat, Abschreiben von
Wendekarten, Arbeit mit einer Rechtschreibkartei, Ordnung von Wörtern nach
einem bestimmten Rechtschreibmuster). "Freiarbeit" hieße dann in dieser
Sicht: Die Kinder können im Auftragsrahmen selbst Aufgaben
wählen/erfinden, oder die vorgegebenen Aufgaben lassen eine
unterschiedliche Bearbeitung zu (z. B. eine Rechenmauer zum Addieren, in die die
Kinder unterschiedliche Zahlen eintragen, verschiedene Ausgangsmuster
ausprobieren; oder ein Alltagsproblem, z. B. die Frage, wieviel Wasser ein
Haushalt unter bestimmten Bedingungen verbraucht).
"Selbstkontrolle" meint in diesem Verständnis von
"Öffnung" nicht nur Vergleich der eigenen mit einer Musterlösung,
sondern argumentative Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen und
Vorgehensweisen (z. B. mathematischen Modellierungen eines Problems oder
Strategien beim Rechnen). Sie verlangt dann eine Haltung gegenüber der
eigenen Arbeit, die von PsychologInnen als Metakognition bezeichnet wird (im
Sinne einer kontinuierlichen Selbstbeobachtung und -korrektur bei der
Arbeit).
Die Verantwortung der SchülerInnen für konkrete
Arbeiten nimmt also im Vergleich zum methodisch-organisatorischen
Verständnis erheblich zu. An der Planung des Unterrichts werden sie aber
auch hier nicht beteiligt.
A3) Öffnung zur Mitwirkung an und Mitverantwortung von Entscheidungen
("pädagogisch-politische Öffnung" der
Schule)
Bisher haben wir unterstellt, daß letztlich die
LehrerInnen (der Lehrplan oder das Schulbuch) bestimmen, was die Kinder lernen -
entweder (s. Al) festgelegt auf konkrete Kenntnisse bzw. Fertigkeiten
oder zumindest (s. A2) als Vorgabe bestimmter Probleme oder
Aufgabentypen. Selbständigkeit der Schülerinnen beschränkt sich
also auf inhaltliche und methodische Ideen für die Lösung von
Aufgaben, die Entscheidung über die Aufgaben selbst bleibt der Lehrerin
vorbehalten.
Auch in unserer Befragung versteht nur knapp ein Drittel der
LehrerInnen den Begriff "Öffnung" im Sinne von mehr Selbständigkeit
und Mitbestimmung im Unterricht (gegenüber immerhin knapp 50 % bzw. 65 %
bei A1 und A2).
Der Anteil von Lehrerinnen, die für ihren eigenen
Unterricht diese Formen als weitgehend realisiert nennen, liegt sogar unter
10%.
Im Gegensatz zu dieser eingeschränkten Mitwirkung an der
Unterrichtsplanung findet die Mehrheit der LehrerInnen es im Blick auf das
soziale Zusammenleben wichtig, die Kinder in die Mitverantwortung zu
nehmen, wie die Zustimmung zu folgenden Ansprüchen an Unterricht zeigt (je
nach Aspekt 40-70%). Auch in der Realisierungsbreite liegen die Werte für
die sozialen Aspekte der Öffnung mit 20-40% deutlich höher.
Was aber bedeutet "Mitbestimmung" konkret?
Ein "Wochenplan" könnte so aussehen, daß die
Lehrerin und die Klasse gemeinsam einen Arbeitsplan entwickeln und seine
Umsetzung kontrollieren, wie Dewey das mit seiner Projektmethode fordert.
Denn Dewey bestimmt "Projekt" nicht äußerlich als ein
Vorhaben, das fachübergreifend angelegt ist, in dem SchülerInnen
selbst tätig werden können und das in ein Produkt mündet, sondern
inhaltlich durch die Mitverantwortung und -kontrolle der gemeinsamen Arbeit
durch alle Beteiligten. Eine stärker individuelle Variante wäre,
daß die Lehrerin mit dem einzelnen Kind sozusagen einen "Lernvertrag"
über bestimmte Aufgaben und eine überschaubare Zeit abschließt
(vgl. Reichen 1991, aber auch Ansätze kooperativer
Verhaltensmodifikation).
"Freiarbeit" hieße dann, daß die Kinder eigene
Ideen für Arbeitsvorhaben einbringen und gemeinsam oder individuell
umsetzen können (wie in den von Heide Bambach (1989) geschilderten
Forschungs- und Schreibprojekten). "Selbstkontrolle" beschränkt sich in
diesem Kontext nicht auf die Anwendung metakognitiver Strategien (s. A2),
sondern bedeutet eine gegenüber der Gruppe und der Lehrerin verantwortete
Selbständigkeit. Die eigene Arbeit und Erfahrung werden (wie im
"Reisetagebuch" von Gallin/Ruf) reflektiert, aber nicht nur im Blick auf
das gegenstandsbezogene Lernen, sondern auch auf die persönliche
Entwicklung des Kindes.
B) Öffnung bis zur Beliebigkeit?
Zur Rolle der Lehrerin im offenen
Unterricht
Ich versuche, die Aufgabe der Lehrerin in diesem Unterricht
über den Begriff der "Herausforderung", den ich in vier Perspektiven
auslege, genauer zu bestimmen:
- Herausforderung durch Sachen,
- Herausforderung durch
Personen,
- Herausforderung durch Traditionen,
- Herausforderung durch
Institutionen.
Ein in diesem Verständnis als "offen" qualifizierter
Unterricht bedeutet also: Die Lehrerin vermittelt nicht Stoff oder Normen,
sondern sie fordert die Erfahrungen, das Denken, die Urteile der Kindes heraus.
Denn: Lernen bedeutet immer Veränderung; Passung (s. oben Al)
heißt insofern nicht Anpassung.
Statt Wissen und Können als Produkt zu "transportieren",
werden Lehrpersonen zu kritischen BegleiterInnen von Lernprozessen, in die sie
zwar bestimmte Inhalte einbringen, deren Wirkung auf die SchülerInnen sie
aber nie determinieren wollen.
Schon diese Kurzformel macht deutlich, daß LehrerInnen
eine wichtige Funktion haben: Kinder herauszufordern, indem sie
- Fragen stellen ("Wie bist du darauf gekommen?", "Was soll das bedeuten?"),
- Alternativen aufzeigen "Probier es doch einmal so!", "Ich würde es so
machen!").
- Zweifel äußern ("Geht das denn auch, wenn ...?", "Ulf
hat ein anderes Ergebnis").
Der Begriff "Öffnung" bekommt damit einen
zusätzlichen Sinn: Unterricht soll nicht kanalisieren und festlegen, indem
die Vorstellungen des Kindes durch andere ersetzt werden, sondern diese
entwickeln, erweitern und bereichern.
Was heißt das konkret?
B1) Herausforderung durch Sachen: als Rätsel, nicht als Lösung
Mit ihrer Praxis des "weißen Blattes" wirft Hannelore
Zehnpfennig die Kinder auf sich selbst, auf ihre eigenen Fragen und
Erfahrungen zurück. Aber auch in einem so radikal offenen Unterricht
verschwindet die Lehrerin nicht, wie in den Berichten von Falko Peschel
(1996a+b) deutlich wird.
Andere Pädagoginnen fokussieren die Aufmerksamkeit der
Kinder stärker, indem sie die Kinder mit einer "Sache" konfrontieren. Der
Spielraum, den Kinder in der Auseinandersetzung mit der Sache haben, ist dabei
unterschiedlich weit. Bei Maria Montessori ist der Fokus sehr eng:
mögliche Aktivitäten und Deutungen sind festgelegt durch die
Isolierung von Merkmalen. Jedes Material hat seine vorher bestimmte (und damit
im didaktischen Konzept nur eine sinnvolle) Verwendung. Insofern ist es
"geschlossen", auch wenn die Kinder in der Wahl der Arbeitsbedingungen viel
Freiheit haben (s. A1).
Ganz anders bei Martin Wagenschein. Er konfrontiert die
Kinder mit einer Situation, die unterschiedliche Interpretationen
zuläßt. Diese Deutungsversuche verweist er immer wieder zurück
auf die Sache, an der die Kinder gegenständlich oder mental ihre Hypothesen
erproben sollen. Dabei gibt es nicht eindeutig falsche oder richtige, sondern
nur mehr oder weniger überzeugend begründete Lösungen.
Alltagsgegenstände, Instrumente, Versuchsanordnungen, Dokumente - die
"Sache" kann unterschiedlich aussehen. Ihre Offenheit besteht darin, daß
nicht eine bestimmte Deutung vorgegeben ist. Aber die Lehrerin
überläßt die Vielfalt der Sichtweisen nicht dem freien Spiel der
Kräfte. Sie fordert die Deutungen / Lösungsversuche / Umgangsweisen
der Kinder dadurch heraus, daß sie immer wieder auf die Sache verweist:
Stimmt das?", "Geht das?", "Was wäre, wenn ...?"
Hier wird deutlich, wie wichtig die Fachkompetenz der Lehrerin
ist. Nicht um zu belehren, sondern um die Sache zur Herausforderung werden zu
lassen - und zwar in unterschiedlicher (Zu-)Richtung, je nach den Deutungen, die
die Kinder versuchen.
B2) Herausforderung durch Personen: als PartnerIn, nicht als VorgesetzteR
Lernen hat immer zwei Seiten: eine Erfahrung mit (Aspekten)
der Umwelt und eine Erfahrung mit sich selbst in der Beziehung zu anderen (vgl.
zur Bedeutung der anderen Kinder unten B4).
Die kindliche Persönlichkeit kann sich nur entwickeln,
wenn sie zureichend Raum hat, sich zu erproben. Erproben kann sich eine Person
aber nur, wenn der Raum Grenzen hat und wenn er nicht leer ist.
Erziehung wird oft verstanden als Vermittlung von Normen.
Kindern wird erklärt, was "gut" oder "richtig" ist, sie werden bestraft,
wenn sie "böse" sind, und zurechtgewiesen, wenn sie etwas "falsch" machen.
Eine solche Erziehung "von oben" verfehlt die Leitidee der
Selbständigkeit.
Aber heißt das, keine Grenzen zu
setzen?
Wichtige Erfahrungen machen Kinder im Umgang und in der
Auseinandersetzung miteinander. Auch wenn Erwachsene sich als PartnerInnen
verstehen, heißt das nicht, daß sie sich den kindlichen
Wünschen unterordnen, sondern daß sie ihre Interessen, ihre
Vorstellungen als gleichwertig behaupten. Herausforderung bedeutet dann,
daß die Lehrerin die Kinder nicht nur auf die Sache verweist, sondern sie
mit der eigenen Deutung (der Sache, einer Situation, eines Verhaltens)
konfrontiert - nicht im Sinne einer sozusagen "authentischen" und damit
überlegenen Interpretation, sondern als alternative Sicht, z. B. bei der
Erklärung eines Versuchsergebnisses, bei der Auslegung eines Gedichts oder
bei der Reaktion auf einen Konflikt.
Wenn die Lehrperson das Kind als Partner ernst nimmt, ist sie
zum einen offen für seine Sicht der Dinge, behauptet aber demgegenüber
die eigene Position als ebenso bedeutsam. Ihre Verantwortung für die Gruppe
weist ihr darüber hinaus eine zweite Funktion zu: den Schwächeren und
Leisen zu helfen, ihre Rechte, Gefühle und Gedanken zu artikulieren, es
auch einmal stellvertretend für sie zu tun in einer Situation, in der sie
das selbst nicht schaffen (s. unten B4).
B3) Herausforderung durch Traditionen: als Konvention, nicht als Wahrheit
Jeder Mensch konstruiert seine eigene Welt im Kopf. Aber
Menschen leben nicht als Einsiedler, sondern in einem sozialen Raum mit
Traditionen des Denkens und Urteilens. An den individuellen Erfahrungen
anzuknüpfen ist wichtig. Die Vielfalt der Subkulturen in unserer heutigen
Gesellschaft macht es andererseits unverzichtbar, gemeinsame Erfahrungen zu
ermöglichen, eine "gemeinsame Sprache" zu sichern. Bildungstheoretisch
bedeutet das: Individualisierung findet ihre Grenzen im Anspruch sozialen
Lernens, im Respekt für andere Sichtweisen und in der Beherrschung von
Konventionen (soziale und sprachliche Umgangsformen, aber auch:
Stellenwertsystem in der Mathematik, Grammatik, Rechtschreibung usw.; vgl.
Heymann 1996, Kap. 3).
Prägnant haben Gallin/Ruf beschrieben, was dies
für die Öffnung des Unterrichts bedeutet: von der Singularität
individueller Denkversuche über die Divergenz konkurrierender Deutungen zur
Regularität (wobei deutlich zu machen ist, daß auch diese eine
Konvention und nicht die einzig sinnvolle Möglichkeit darstellt).
Das Denken des Kindes in seinen individuellen Lösungen
von Aufgaben akzeptieren, es durch die soziale Interaktion (z. B. über
Rechenplakate oder Schreibkonferenzen) in Bewegung bringen und es
schließlich mit den Konventionen der Fächer oder den Traditionen
verschiedener Subkulturen als möglicher (!) Vereinfachung, Zusammenfassung
oder Differenzierung wieder konsolidieren - als Oszillation zwischen diesen
Polen läßt sich die Aufgabe der Lehrerin in diesem Feld
beschreiben.
Um diesen Prozeß zu regulieren, hat Lawrence
Stenhouse (1975, Kap. 7) - speziell zur Diskussion kontroverser Fragen -
Kriterien für die Lehrerrolle formuliert (er nennt sie "Standards"):
Aufgabe der Lehrperson sei es nicht, "richtige" Meinungen zu vermitteln oder zu
bestätigen, sondern Minderheitenpositionen zu stärken, Konsens in
Frage zu stellen, Begründungen zu erfragen, alternative Sichtweisen
einzuführen.
Für verschiedene Lernbereiche der Grundschule sind
analoge Prozeßkriterien ausdrücklich entwickelt worden (vgl. für
den Sachunterricht Tütken u. a. 1977ff.; für den Anfangsunterricht im
Lesen und Schreiben Brügelmann/Brinkmann 1993, 23, und für den
Mathematikunterricht Hengartner 1992, 16ff.).
B4) Herausforderung durch Institutionen: als Aufgabt, nicht als Vorgabe
Schule ist (abgesehen von dem noch nicht so stark
formalisierten Kindergarten) die erste Institution im Leben eines Kindes. Hier
erlebt es grundsätzlich andere Normen für die Interaktion als in der
Familie. Der Wechsel von einer persönlichen zu einer universalistischen
Orientierung bereitet vor auf das Leben in einer Gesellschaft, die wegen ihrer
Komplexität soziale Beziehungen in hohem Maße formalisieren
muß.
Die Schule, vor allem der Anfangsunterricht stellt damit eine
schwierige, aber notwendige Entwicklungsaufgabe:
- von der individuellen, auch stark emotional geprägten Beziehung zu
anderen Personen
- hin zu Rollenbeziehungen, die stärker von der Funktion
in der Institution her und der fachlichen Leistung definiert sind (z. B. als
"SchülerIn").
Die Lehrerin steht damit in einer doppelten
Spannung:
- zwischen ihrer Rolle als Bezugsperson für viele Kinder (s. B2)
und ihrer Funktion als Inhaberin eines Amtes in der Institution;
- zwischen
dem Anspruch, die Selbständigkeit der Kinder nicht nur zu fördern,
sondern auch zu respektieren, und dem Auftrag, gesellschaftliche Anforderungen
durchzusetzen (z. B. Selektion).
Diese Spannungen lassen sich nicht generell, sondern nur
situativ lösen: als jeweils neu zu findender Kompromiß. Ob dieser
überzeugt, ist nicht nur eine Frage der inhaltlichen Stimmigkeit, sondern
auch der persönlichen Glaubwürdigkeit. Glaubwürdig können
verschiedene Lösungen sein, wenn deutlich wird, daß die Lehrperson
die widerstreitenden Interessen/Anforderungen wahr- und ernst nimmt.
Lernen in einer demokratischen Schule und für eine
demokratische Gesellschaft fordert aber einen weiteren Schritt (insofern auch
über B2 hinaus): Beteiligung der Schülerinnen an der Planung
des Unterrichts und Mitverantwortung für das Zusammenleben in der Klasse.
In A3 habe ich das als Anspruch des Kindes auf Öffnung der
Entscheidungsverfahren formuliert. Diesem Recht korrespondiert eine Pflicht,
sich Entscheidungen zu beugen, die in einem offenen Verfahren gefunden
wurden.
Die vierte Aufgabe der Lehrperson heißt also:
Institutionalisierung von Verfahren, vom regelmäßigen
Gesprächskreis am Morgen über die ebenfalls noch informelle
Leseversammlung bis zum Klassenrat oder gar zum Schülergericht (wie bei
Korczak).
Solche Formen der Meinungsbildung und der Konfliktlösung
gemeinsam mit den Kindern zu entwickeln ist ein wesentliches Medium sozialen
Lernens, beschränkt sich aber nicht - wie bei vielen LehrerInnen (s.
A3) - auf die Regelung des sozialen Miteinanders, sondern schließt
Entscheidungen über Inhalte des Unterrichts mit ein. Den Anspruch auf ihre
Respektierung im Alltag durchzusetzen, auch stellvertretend für die Leisen
und Schwachen, ist eine zentrale Funktion der Lehrperson.
In dieser Hinsicht steht sie auch für gesellschaftliche
Anforderungen, allerdings nicht als Curriculum einzelner Stundeninhalte, sondern
als Grundkonzept von Lernen in der Schule insgesamt (s. zum Stichwort
"Unterrichtskultur" C3).
Wie läßt sich die beschriebene Rolle der
Lehrerin konkret umsetzen und abstützen?
C) Strukturen im offenen Unterricht
Herkömmliche Lehrgänge entlasten die Lehrerin, indem
sie
- den Gegenstand,
- die Ziele und
- den
Weg
für die Arbeit der Schülerinnen vorgeben.
Dieser Ansatz unterstellt den DidaktikerInnen eine besondere
Autorität in
- fachlicher,
- politischer und
- didaktisch-methodischer Hinsicht,
die sie LehrerInnen (im Verhältnis zu den
SchülerInnen) über ihre Konzeptionen, Programme und Materialien
übertragen.
Wenn wir diese Autorität relativieren im Sinne der oben
geforderten Öffnung des Unterrichts (s. A1 bis A3), dann
stellt sich die Frage nach alternativen Strukturen (vgl. auch Schwarz 1994;
Speck-Hamdan 1994). Denn das Wechselspiel von Eigenaktivität der
Schülerinnen und Herausforderung durch die Lehrerin gedeiht nicht im
luftleeren Raum. Strukturen können Lehrerinnen in drei Dimensionen
entwickeln, die ich im folgenden exemplarisch am Beispiel des
Anfangsunterrichts, vor allem im Lesen und Schreiben, konkretisiere.
C1) Strukturierung durch die inhaltliche Gestaltung von Materialien
Materialien, die wir für Erkundungs-, Ordnungs-,
Übungsaufgaben bereitstellen, können inhaltlich so strukturiert
werden, daß sie bestimmte Umgangsweisen und Einsichten nahelegen. Das
Wortlisten-Training 1-6 von Balhorn u. a. mit der Gruppierung von
Wörtern nach Rechtschreibgemeinsamkeiten, die morphematisch
unterschiedliche Färbung von Wortbausteinen bei Marion Bergk, das
"Straßenspiel" von Christa Röber-Siekmeyer zum Einüben
der s-/ss-/ß- Schreibung sind ebenso Beispiele für solche ins
Material eingebaute Muster wie in unserer "Ideen-Kiste 1
Schrift-Sprache"
- das gezinkte Memory mit Minimalpaarwörtern, die auf zentrale Merkmale
von Schriftwörtern aufmerksam machen;
- die Wortbaumaschine mit Fenstern
für Stamm-, Vor- und Nachsilben;
- alle "Odd-man-out"-Aufgaben, die neben
mehreren mustergerechten Beispielen einen "Störenfried"
enthalten.
Solche Aufgaben/Materialien enthalten also eine Struktur, die
dem Kind implizit für die Rekonstruktion im Rahmen seiner aktuellen
Denkmuster angeboten, diesen aber nicht durch explizite Vermittlung und
Forderung aufgezwungen wird. Ob, wann und wie das Kind die Struktur aufnimmt,
entscheidet nicht die Lehrerin, aber sie fordert das kindliche Denken durch das
Material heraus und weist ihm sinnvolle Entwicklungsmöglichkeiten: enger im
eindimensionalen Sinnesmaterial von Maria Montessori, weiter in den
Fröbelschen Spielgaben.
Die Anlauftabelle von Jürgen Reichen ist das
eindrucksvollste Beispiel dafür, wie mit minimaler Vorgabe eine Denk- und
Ordnungshilfe angeboten werden kann, daß eine Sachlogik
repräsentiert, diese aber als Werkzeug in die Hand des Kindes gibt, um
seine Selbständigkeit zu steigern. Wir sind in dieser Richtung noch einen
Schritt weitergegangen und haben vorgeschlagen, die Anlauftabelle nur als
Hohlform vorzugeben, in die Kinder individuell unterschiedliche Bilder einkleben
oder -malen, die ihre persönlichen Schlüsselwörter
repräsentieren. In ihrer Werkzeugfunktion weist die Anlauftabelle schon den
Übergang zu einer zweiten Strukturierungsform offenen
Unterrichts:
C2) Strukturierung durch die methodische Gestaltung von Arbeitsformen
Orientierung und Sicherheit geben wiederkehrende
Aufgabentypen. Wir haben sie in der "Ideenkiste Schriftspracherwerb" als
methodische Institutionen bezeichnet, die von einfachen, häufig an ein
Material gebundenen Arbeitsformen (z. B. die "Lektion" bei Montessori)
über die zweckgebundene Ausweisung von Zeiten (z. B. der "Wochenplan" bei
Petersen) bis zur aufgabenspezifischen Gestaltung von Räumen (z. B.
die "Ateliers" bei Freinet) reichen:
- Buchstabenplakate, auf denen jede Woche neu, aber immer nach demselben
Muster grafisch unterschiedliche Versionen des aktuellen Buchstabens gesammelt
und die Zuordnungen zur Diskussion gestellt werden;
- Anlautteller, auf denen
analog wöchentlich Gegenstände, Bilder, Wörter mit demselben
Anlaut zusammengestellt werden;
- das Sammelsurium, ein Wörterbuch, in
dem Kinder Wörter mit besonderen Schreibweisen sammeln, z. B. mit
<aa> oder mit <ieh>;
- die Wörterkartei, in der die
SchülerInnen ihre schwierigen Wörter nach dem Vokabelprinzip sortieren
und regelmäßig üben;
- das Forscherheft, in dem sie sich
besondere Einsichten aus der Untersuchung von Wörtern notieren;
- der
Projekttisch, auf dem die Kinder Materialien für ein demnächst
anstehendes Vorhaben sammeln und im Blick auf mögliche Teilprojekte
miteinander besprechen;
- schließlich auch Freinets Druckerei,
die bestimmte Arbeitsweisen fordert, aber auch besondere
Handlungsmöglichkeiten eröffnet, und
- Reichens "Werkstatt"
als Dezentralisierung von Aufgaben in Form von Stationen, die von einzelnen
Kindern betreut werden.
Ziel solcher methodischen Strukturierungen ist es, Haltungen
und Arbeitstechniken zu entwickeln, die das selbständige Lernen
erleichtern: Probieren, Prüfen, Ordnen sind solche übergreifenden
Leistungen. Eine besondere Qualität gewinnen solche methodischen
Grundformen, wenn sie einen bedeutungsvollen "Sitz im Leben" (Theodor
Schulze) haben wie beispielsweise das Sammeln von Besonderem und Ordnen von
Ähnlichem, das schon kleine Kinder fasziniert, aber ebenso
wissenschaftliches Arbeiten charakterisiert.
Ist Montessori die Meisterin in der Strukturierung von
Material, so können wir für die Strukturierung des Unterrichts durch
methodische Institutionen viel von Peter Petersen lernen. Seine Urformen
der Bildung - Gespräch, Arbeit, Spiel, Feier - bieten ein Repertoire an
Bauformen des Unterrichts, die sich in spezifischer Weise ergänzen. In der
zeitlichen Rhythmisierung die Woche, z. B. mit Schulfeiern zum Auftakt und Ende
der Woche, mit Klassengesprächen am Tagesanfang und -ende, mit Kursen und
Arbeitsgemeinschaften wird den SchülerInnen eine Zeitstruktur geboten, die
erst den Raum für eine Mitplanung und eigene Verantwortung der Arbeit
schafft.
Arbeitsformen lassen sich insofern nicht rein technisch
bestimmen. Damit kommen wir zur dritten Dimension der Strukturierung von
Offenheit, die auch schon bei Petersen in seiner Ausformung der
"Gemeinschaft" anklingt:
C3) Strukturierung durch die soziale Gestaltung einer Unterrichtskultur
Heinrich Bauersfeld, Mechthild Dehn, Hans-Werner Heymann,
Barbara Kochan und viele andere haben auf die Bedeutung der sozialen Normen
und Praktiken im Unterricht für die Qualität der
Lernmöglichkeiten hingewiesen. Rituale sind wie die methodischen Strukturen
Hohlformen, die inhaltlich unterschiedlich gefüllt werden können. Als
gemeinsame Orientierungshilfe bieten sie Sicherheit im Tages- und Wochenablauf,
darüber hinaus fördern sie die Entwicklung individueller Routinen.
Diese entlasten bei der Arbeit, aber sie prägen auch Einstellungen und
Verhaltensweisen.
Darum brauchen wir soziale Strukturen, die die
Selbständigkeit, die Gesprächs- und Kooperationsfähigkeit, die
Toleranz und Kritikfähigkeit der Kinder stützen. Einige bereits
erwähnte Möglichkeiten, in denen Sache und Sprache zusammenfinden und
auf einer Meta-Ebene gemeinsam geplant bzw. kontrolliert werden (da diese
Begriffe leicht zu Etiketten verkommen, charakterisiere ich das inhaltlich
Gemeinte stichwortartig durch Bezug auf konkrete AutorInnen):
- der Morgenkreis bei Walter Kempowski,
- die Leseversammlung bei
Heide Bambach,
- die Schreibkonferenz bei Donald Graves und
Gudrun Spitta,
- die Rechenkonferenz bei Christoph
Selter,
- die Klassenkorrespondenz bei Célestin Freinet,
- der Wochenplan bei Peter Petersen,
- die Schulversammlung bei
Janusz Korczak,
- das Projekt bei John
Dewey
Diese sozialen Institutionen haben gemeinsam, daß sie
das Von- und Miteinander-Lernen der Kinder stützen, daß also nicht
nur die Lehrerin die Kinder herausfordert. Ihre Aufgabe ist vorrangig, diese
wechselseitige Herausforderung und Unterstützung zu moderieren. In dem
Konzept der "Lernwerkstatt" haben wir Besonderheiten und konkrete Bedingungen
einer solchen Unterrichtskultur an anderer Stelle zusammengefaßt
(Brügelmann/Richter 1994, 267 ff.).
C4) Strukturierung didaktischer Planungshilfen für die Lehrerin
Die drei Dimensionen der Strukturierung des Unterrichts geben
der Lehrerin ein flexibles Repertoire an die Hand. Je dichter die eine Dimension
strukturiert wird, um so offener sollte die andere sein (und kann es auch
für die Kinder, vgl. dazu die interessanten Beobachtungen von Wittoch
1991). Aber auch jede Struktur für sich muß unter dem Anspruch
geprüft werden, ob sie die intellektuelle und die soziale
Selbständigkeit der Kinder fordert (und damit fördert).
Es sollte deutlich geworden sein, daß die Lehrerin damit
weder zum passiven Zuschauen noch zum bloßen Abwarten verurteilt ist.
Andererseits verpflichten die in A3 und B4 begründeten
Prinzipien sie dazu, diese Strukturen in Abstimmung mit den Kindern zu
entwickeln bzw. zu überprüfen.
Für ihre eigene Orientierung und Entlastung allerdings
braucht auch die Lehrerin andere Strukturen als in der Lehrgangsform denk- und
machbar. Dies gilt vor allem, wenn wir die einleitend definierte Forscher-Rolle
der Lehrerin ernst nehmen.
Drei solcher "offenen Strukturen" haben wir an anderer Stelle,
nämlich in der "Ideen-Kiste 1 Schrift-Sprache", entwickelt. Ich fasse die
zentralen Elemente deshalb nur noch einmal zusammen:
- eine "didaktische Landkarte" als geordnete Ziel- und
Inhaltsperspektive;
- ein Stufenmodell kindlicher Entwicklung als
Beobachtungs- und Deutungshilfe;
- Prinzipien für die methodische
Gestaltung des Unterrichts als Prozeßkriterien.
Aber LehrerInnen brauchen neben didaktisch-methodischen
Orientierungen weitere Strukturen für eine solche Arbeit, die sie nicht
allein schaffen können. Solche Rahmenbedingungen sind etwa:
- Organisationsformen des Schulalltags, über die das Kollegium oder die
Gesamtkonferenz entscheiden (z. B. Rhythmisierung des Schultags, Abschaffung der
Klingel, Gleitzeiten, Anschaffung von alternativen
Lehr-/Lernmitteln);
- Klassengrößen und Stundenzahlen, die pro
Woche zur Verfügung stehen, die politisch zu verantworten und zu
finanzieren sind (etwa die Einführung der halbtägigen
"verläßlichen Grundschule");
- Inhalte und Lernformen in der Aus-
und Weiterbildung, aber auch Angebote der Beratung und Supervision, wie sie
für andere soziale Berufe selbstverständlich sind (wiederum als
Rahmenbedingung politisch zu entscheiden, aber konkret in den Hochschulen und
von der Schulverwaltung zu entwickeln und
bereitzustellen).
Ein Wort zum Schluß: Ich hoffe, der Vorwurf,
offener Unterricht sei unstrukturiert oder tendiere von seiner Idee her
zum Chaos, gehört nach dem Gesagten in Zukunft der Vergangenheit an.
Denn:
"Öffnung des Unterrichts bedeutet nicht Verzicht auf
Systematik. Diese Systematik ist aber weder kleinschrittig noch linear. Sie
beschreibt einen Lernraum statt eines Lehrgangs. In diesem Raum sind
verschiedene Wege möglich, aber es gibt Koordinaten, um ihnen zu folgen und
um Richtungen zu weisen. Nur: Öffnung des Unterrichts bedeutet den Verzicht
auf eine pädagogische Allmacht, die Begriffe wie "Diagnose", "Kontrolle"
und "Förderprogramm" nahelegen. Ich spreche lieber von "Beobachtungs- und
Deutungshilfen", von "methodischen Ideen". Diese behutsameren Wörter sind
Ausdruck einer Selbstbescheidung, die uns ansteht, wenn wir Kinder als Menschen,
Lernen als Erfahrung und Pädagogik als eine etwas hilflose Mischung aus
Theoriestücken, Handwerk - und Liebe zu verstehen beginnen." (Kinder auf
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bidok - Volltextbibliothek:
Wiederveröffentlichung im Internet
Hans Brügelmann: Die Öffnung des Unterrichts
muß radikaler gedacht, aber auch klarer strukturiert werden
Stand: 16. Aug.1999
[1] Dieser Beitrag geht
zurück auf meinen Vortrag vor der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft
für Lesen und Schreiben am 11. Mai 1996 in München. Eine Langfassung
dieses Beitrags ist erhältlich als OASE Bericht No. 4 (gegen eine
Schutzgebühr von 5 DM zu beziehen unter der OASE-Anschrift, s. Anm.
2).
Ich danke Falko Peschel nicht nur für diese
Herausforderung, sondern auch für viele Anregungen und konkrete Hinweise,
die mir geholfen haben, meine Position - wie ich hoffe: auch für andere -
klarer zu bestimmen. Weitere kritische Anmerkungen verdanke ich Heiko
Balhorn, Heide Niemann, Lilly Roffman und - wie so oft - Erika
Brinkmann.
Vgl. zu früheren Bemühungen um eine klarere
Bestimmung, was Offenheit im Unterricht ausmacht, schon Ramseger 1977;
Wagner 1978; Bönsch/Schittko 1979, 36 ff.; Wallrabenstein
Nauck 1993.
[2] Die folgenden Daten stammen
aus einer Voruntersuchung zu unserer Erhebung "Offenheit im Unterrichtsalltag",
in der wir untersuchen, welche Vorstellungen und Erfahrungen LehrerInnen mit der
"Öffnung des Unterrichts" verbinden (ausführlicher: OASE Bericht Nr.
3, zu beziehen gegen eine Schutzgebühr von 4 DM [in Briefmarken] über
P. Ulmer, FB 2, Universität, PF 101240, 57068 Siegen).
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