(Meine Antworten aus der schriftlichen Diskussion 'Verbesserte Früherkennung- hilft's den Kindern?" in der Zeitschrift "Ärztliche Praxis" (XLI. Jg. Nr. 92 (Seiten 3202-3205) vom 18. November 1989))


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1. Gibt es heute gesicherte Kriterien für die Diagnose des frühkindlichen Autismus?

Autistische Verhaltensweisen, darüber besteht weitgehende Übereinstimmung, sind geprägt durch die Abwehr von Veränderungen, Rückzug aus sozialen Bezügen, motorische und sprachliche Stereotypien.
Unterschiedlich ist die Einschätzung der Gewichtung und des notwendigen Ausprägungsgrades innerhalb dieser Bereiche. Ich meine, eine Summationsdiagnose, d.h. das reine Addieren von Verhaltensbesonderheiten in den verschiedenen Bereichen, ist nicht dazu geeignet, die Bedeutung der autistischen Verhaltensweisen sinnvoll zuerfassen.
Das strukturgebende Moment innerhalb der "autistischen Symptomatik" ist der Versuch der Gleicherhaltung der Umwelt, der das gesamte Verhaltensbild eines Menschen mit autistischen Verhaltensweisen durchzieht.So stellen die stereotypen Verhaltensweisen eben die von außen sichtbare Handlungskomponente dieser für die Persönlichkeit autistischer Menschen lebenswichtigen Tendenz dar. Auch die Schwierigkeit im Umgang mit Menschen und die Hinwendung zum - stereotypen - Umgang mit Gegenständen lassen sich hieraus ableiten (gegenüber einem Gegenstand besitzen selbst bekannte Menschen für den Autisten eben eine sehr viel größere Variabilität in Erscheinung und Verhalten). Diese Verhaltenstendenz zur Gleicherhaltung der Umwelt, die die gesamte Entwicklung eines 'autistischen' Menschen hemmt, besonders aber den Aufbau sozialer Beziehungen sehr erschwert, wenn nicht blockiert, wird damit zum entscheidenden diagnostischen Kriterium und bildet Rahmen, inden sich die anderen Symptome, dieses Bild quasi kolorierend, einfügen müssen.

2. Welche Faktoren in der Ätiologie sind heute allgemein anerkannt, was ist weiterhin strittig?

Wie schon in meiner Antwort zur ersten Frage zum Ausdruck kommt, drücke ich mich um die Formulierungeiner nosologisch einheitlichen Gruppe "Frühkindliche Autisten". Diese scheint mir heute weder gesichert noch der Förderung von Menschen mit autistischen Verhaltensweisen dienlich.
Übereinstimmung besteht darüber, daß es sich beim Autismus um eine Wahrnehmungs-Verarbeitungsstörung handelt. Neuere Erkenntnisse präzisieren diese allgemeine Vermutung auf eine Neuigkeitsverarbeitungsstörung.
Die Neuigkeitsverarbeitung wird im wesentlichen von Prozessen im Hippokampus gesteuert. Es wäre allerdings ein fatales Mißverständnis dieser komplexen Modelle, den 'Autismus' mit der Ätiologie: "Störung der Hippokampus-Region" auf ein eindimensionales monokausales Geschehen festzulegen. Die Neuigkeitsverarbeitung im angesprochenen Bereich ist wesentlich beeinflußt von vorhandenen Gedächtnis-Inhalten und wird darüber hinaus noch von bewertenden Aktivitäten des Frontalhirns und motivationalen Signalen beeinflußt. Der Grund der Neuigkeitsverarbeitungsstörung kann also neben organischen Läsionen der an diesem Prozeß beteiligten ZNS-Strukturen auch in einem Mangel an bedeutungsvollenGedächtnisinhalten auf Grund einer "geistigen Behinderung", inadäquaten Antworten der Umwelt, aber auch in einer frühen psychischen Deprivation liegen.

3. Welche Therapieformen haben sich bewährt?

Eine "bewährte Therapieform" kann es auf Grund meiner obigen Ausführungen nicht geben. Man kann allerdings aus meinem beschriebenen Verständnis vom Sinn autistischer Verhaltensweisen Hinweise auf den Umgang mit autistischen Personen entwickeln.
So helfen strukturierte Umwelten, klare, überschaubare Regeln und Zeitabläufe dem Autisten, Sicherheit zu gewinnen. Die Abhängigkeit von autistischen Verhaltensweisen sinkt in dem Maß, wie diese Sicherheit zunimmt. Wichtig ist dabei, daß es sich nicht allein um rigide Regeln handelt, denen sich der 'Autist' leicht einfügt (so entsteht nur eine höhere und sozialverträglichere Form von Stereotypie).
Es gilt dagegen, ihm in dieser Umwelt und von der Sicherheit aus, die diese bietet, produktive, d.h. Veränderungs(!)-Möglichkeiten zu eröffnen. Das Ergreifen solcher Möglichkeiten allein heißt schon: ein Stück weit weg vom 'Autismus'! Dieser individuelleWeg der Förderung ist ausgesprochen lang und steinig, handelt es sich doch um die umfassendste 'Verhaltensstörung' überhaupt.
Therapieformen, die kurzfristig Erfolge versprechen - Modewellen, von der Verzweif` lung der Betroffenen genährt - sind für mich an der Grenze zur Scharlatanerie angesiedelt. Sie sind schon deshalb gefährlich, da sie die ungeheure Geduld, die für wirkliche Fortschritte notwendig ist, mit ihren 'Heilsversprechungen'untergraben.
Dies heißt nicht, daß mit, entsprechenden Zwangsmaßnahmen - z.B. Festhalte-Therapie - keine Effekte zu erzielen sind.
Ein therapeutischer Effekt für den 'Autisten' im von mir oben beschriebenen Sinn konnte bisher jedoch nicht positiv nachgewiesen werden.
Die Anwendung solcher Radikaltherapien ist deshalb meiner Meinung nach durch nichts gerechtfertigt, da sie den Autisten - evtl. in einer etwas sozial verträglicheren Form - noch mehr in seinem Rückzug fixieren.

4. Welche Entwicklung nehmen autistische Jugendliche und Erwachsene?

Es gibt verschiedenste Ursachen und Bedingungen für das Zustandekommen dominierend autistischerVerhaltensweisen. So ist eine allgemeine Prognose nicht abzugeben.
Dies gilt in besonderem Maße, da die Entwicklung im wesentlichen von den Angeboten und der Strukturierung der Umwelt autistischer Menschen abhängig ist.
Entsprechende Angebote in der Bundesrepublik sind bis auf einzelne Ausnahmen kleiner Institutionen in privaterTrägerschaft nicht vorhanden - ein beschämender Beweis für die humane Situation in der pro Kopf reichsten Nation der Welt.
Beispiele aus dem Ausland zeigen aber, daß es bei entsprechenden Hilfen durchaus gelingt, autistischen Menschen - wie auch anderen Behinderten - ein menschenwürdiges Leben, Wohnen und Arbeiten und damit eine Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.

5. Was muß getan werden, um die Früherkennung zu verbessern?

Vor allem müßte klar sein, daß die alleinige Mitteilung einer Diagnose "Autismus" wie auch "geistige Behinderung" ohne entsprechende Begleitung der Familie einen solchen Schock in dieser auslöst, daß deren Erziehungsverhalten verständlicherweise - "nur kein Risiko", "Überbehütung", "Angst vor Neuem (!)" - eher die Tendenz hat, autistische Verhaltensweisen zu verstärken oder gar hervorzubringen, als diesen konstruktiv zu begegnen.
Es gilt also, Teams von Medizinern, Pädagogen und Krankengymnasten zur Verfügung zu haben, die von den Kinderärzten angesprochen werden können. So sind die sekundären Beeinträchtigungen, die oft für das Erscheinungsbild einer autistischen oder anderen Behinderung wesentlich werden, zu verhindern.

Peter Rödler (mail)

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