Katharina Rusch

Taubblindheit als soziale Konstruktion.

Ausführliche Wiedergabe von: David Goode: A World Without Words. The social construction of children born deaf and blind. Philadelphia: Temple UP 1994. (1)



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Einleitung

Wir leben in einer Gesellschaft, in der die gesprochene Sprache einen enormen Stellenwert hat.

Sich den Alltag ohne verbale Sprache vorzustellen ist für die sehende und hörende Gesellschaft nur schwer zu erdenken möglich. Den Alltag der taub-blinden Kultur bezwecke ich im folgenden Text dem Leser nahezubringen. Dazu beziehe ich mich auf das, umfangreiche Nachforschungen beinhaltende, Buch „Eine Welt ohne Worte" von dem Ethnomethodologen David Goode, daß bis jetzt nur in englischer Sprache zu erwerben ist. In seinem Buch bezieht sich David Goode auf die sozial abgelehnte und psychologisch entwertete Gruppe von taub-blinden Menschen. Seine Nachforschungen basieren auf der Arbeit mit Kindern, die mit dem Rubella-Syndrom geboren wurden. (Auf die Auswirkungen dieses Syndroms gehe ich im folgenden Text genauer ein.) Jedes Kapitel des Buches ist eine Herausforderung an den hörenden, sehenden und sprechenden Leser umzudenken. Das Buch ist ein Plädoyer an die Kultur der sehenden und hörenden Welt. David Goode ruft diese durch seine Arbeit förmlich dazu auf, die Welt der taub-blinden Kinder zu betrachten, zu erforschen und zu verstehen.

Die Tatsache, daß Goode Ethnomethodologe ist, hindert ihn nicht daran, den Kindern auf seine Weise zu begegnen und mit ihnen zu arbeiten. Die Körpersprache hat in seiner Arbeit einen besonderen Stellenwert. Daß die Taub-Blindheit eine soziale Konstruktion ist und, daß ein Ethnomethodologe in seiner Arbeit Beobachter und Involvierter zugleich sein kann, möchte ich in meiner Arbeit mit Hilfe der Darstellung des Buches „A World Without Words" veranschaulichen.



Zu David Goode und seiner Arbeit

Im Jahre 1973 beginnt Goodes praktische und wissenschaftliche Arbeit für das Buch „A World Without Words", als Teil der Nachforschungen für seine Dissertation. Eine Menge Menschen haben, auf vielfältige Weise, etwas zu dieser Arbeit beigetragen. Goode wird

hilfsbereit von Ethnomethodologen aus Kalifornien unterstützt, die ihn während seiner Studienzeit begleiten. Sie begutachten die Sammlung, sowie die anfänglichen Analysen, der Daten, über die Goode in seinem Buch berichtet. Seine Promotionsleitung besteht aus Harold Garfinkel und Melvin Pollner. Mit ihnen verbringt Goode zahlreiche Stunden, um sein erworbenes Material aus dem professionellen, als auch aus dem persönlichen, Blickwinkel zu diskutieren. Andere Mitglieder des Dissertationskomittees an der UCLA sind Robert Edgerton, Robert Emerson, Warren TenHouten und Mike McGuire. Auch sie spielen bei der Beaufsichtigung Goodes Nachforschungen eine wichtige Rolle. Gute, ethnomethodologische Ratschläge erteilen ihm ebenfalls einige seiner Kommilitonen. Der Neurologe Herbert Grossmann, der in der medizinischen Abteilung der UCLA tätig ist, steht David Goode jederzeit mit Rat und Tat zur Seite. Obgleich er nicht zum Dissertationskomittee gehört, verhält er sich so kooperativ, als wäre er Teil davon. Psychologische Unterstützung erfährt Goode vor allem durch befreundete, bereits promovierte, Studenten des anthropologischen Fachgebietes. Zutiefst dankbar ist er der autistischen Autorin Donna Williams. Sie arbeitet professionell mit taub-blinden Kindern und bekräftigt Goode in seinen Interpretationen über ihre Welt. Namenhafte Professoren suchen schriftlichen Kontakt mit David Goode und bestätigen ihm die Notwendigkeit der Forschung bezüglich des, von ihm gewählten, Themengebietes. Weiterhin bedankt er sich bei seiner Familie, die ihn, und seine Hartnäckigkeit, während der Nachforschungen ertragen hat. In besonderer Form spricht er jedoch seine Dankbarkeit gegenüber den Kindern, den Familien, den Soziologen, dem Institutionspersonal, den Ärzten und allen, die ihm während seiner Forschungszeit als „Subjekt" dienten, aus.

Anfänglich kommt Goode zu der Annahme, daß all die Kinder und Eltern, die er in der Zeit seiner Nachforschungen kennenlernte, keine formelle Sprache haben. Er geht davon aus, daß sie keine eigenen Worte besitzen, um sich auszudrücken bzw. ihre Geschichte zu erzählen.

Sein Buch „A World Without Words" handelt von diesen Menschen. Goode, praktizierender Ethnomethodologe, begann ausführlich über die Ethnomethodologie nachzudenken.

Die Ethnomethodologie ist eine Form der Soziologie, die sich speziell mit der Beschreibung der Welt und der Beziehung zwischen Text und weltlichen Ereignissen befaßt.

Goode studierte eine Welt, wie der Titel des Buches bereits verrät, ohne Worte.

Wie kann man eine formelle Sprache (Sprache im herkömmlichen Sinne) benutzen, um eine Geschichte von Menschen zu erzählen, die keine formelle Sprache haben? Diese Frage beinhaltet ein zentrales, methodisches Problem, mit dem Goode sich in seinem Buch beschäftigt. Die Existenz des Buches „A World Without Words" beweist, daß Goode eine Art Antwort auf diese Frage erarbeitet hat. In seinem Buch findet der Leser eine ethnomethodologische Untersuchung des Lebens von taub-blind geborenen Kindern, die an dem Rubella-Syndrom erkrankt sind, das im Verlauf der sechziger Jahre bekannt wurde.

Kinder mit dem Rubella-Syndrom leiden oft an einer geistigen Fehlentwicklung bzw. Entwicklungsverzögerung, als auch an einer Anzahl anderer Mehrfachbehinderungen.

Sie haben umfangreiche, medizinische Probleme, multiple Behinderungen und eine extrem begrenzte Entwicklungsmöglichkeit in vielerlei Lebensbereichen. Goode beschreibt diese Kinder, als die außergewöhnlichsten Personen, die ihm je begegnet sind. Er nutzt das Wort „außergewöhnlich" im positiven, als auch im negativen Sinne. Er bezeichnet sie als eine Herausforderung für das menschliche Miteinander. In ihrer Familie sind sie fordernde Kinder, sowie sie zugleich faszinierende Töchter und Söhne sind. Ebenfalls sind sie Freunde für die, mit denen sie vertraut sind. Dieses und viel mehr, sind die Rubella-Kinder der sechziger Jahre.

Sie sind so unglaublich interessant, wie sie gleichermaßen unglaublich mißverstanden werden.

Seine Nachforschungen betreibt David Goode in den siebziger Jahren an der UCLA. Die Hauptkapitel seines Buches basieren auf Artikeln, die er im Laufe der vergangenen Jahre in Büchern und Journalen veröffentlichte. Das Material veränderte sich jedoch, da er es neu überdachte und überarbeitete. Als er seine Daten und Interpretationen in den siebziger Jahren niederschreibt, sind diese die aktuellsten, die es zu diesem Themenbereich gibt. Fünfzehn Jahre benötigt er, um sein schriftliches Projekt zu vervollständigen und abzuschließen. Das mag daran liegen, daß das von ihm bearbeitete Thema ihm noch heute Fragen stellt, auf die ihm die Antworten fehlen. Daß das Buch „A World Without Words" eine kleine Hilfe für das Leben der Rubella-Kinder bedeutet, wünscht sich Goode, auch, wenn er bezweifelt, daß es keinen großen Unterschied in ihrem Leben bewirken wird.



Goodes „Wortlose Welt"

Zwischen 1973 und1976 führt Goode im Rahmen einer Nachforschung eine Beobachtung im staatlichen Hospital durch. In diesem Zusammenhang arbeitet er in der Abteilung für Kinder, die taub-blind geboren, sowie als geistig zurückgeblieben diagnostiziert wurden. Auch hatten sie in der Entwicklung der herkömmlichen Sprache versagt. Viele dieser Kinder sind mit dem Rubella-Syndrom geboren worden, welches den Embryo aufgrund bestimmter Viren bereits im Mutterleib schädigt („viral embryopathy") Das Rubella-Syndrom verursacht einige der schwersten Behinderungen, die bei Kindern bekannt sind. Bezüglich der Nachforschung innerhalb dieser Abteilung, hatte sich Goode keine spezifischen, theoretischen oder methodischen Ziele gesteckt. Diese ergaben sich erst im Laufe der Studie. Goode empfindet die Abteilung als eine sehr interessante Umgebung, weiß jedoch nicht, daß er auf längere Sicht eine Verbindung mit dessen Personal und Bewohnern eingehen wird. Zu dem Zeitpunkt ist seine vordergründige Motivation eine aufrichtige Faszination an der Interaktion zwischen taub-blinden Kindern ohne formeller Sprache, und Erwachsenen, die hören, sehen und sprechen können. Als Hochschulabsolvent hat Goode ausreichend soziologische Literatur gelesen, um zu verstehen, daß Soziologen der Sprache eine kritische Rolle in der Organisation von sozialen Beziehungen und menschlichem Verhalten zuweisen. Dieses realisierte er, seitdem er in eine Gesellschaft gestolpert war, in der das Teilen von herkömmlicher Sprache keine Funktion hatte. Möglicherweise gibt ihm diese Erkenntnis den hauptsächlichen Anstoß zur Motivation an der Forschungsarbeit. Im Endeffekt deckt seine Nachforschung viele Themenbereiche ab - nicht alle stehen notgedrungen in Relation zur Sprache. Durch seine Arbeit präsentiert Goode einen sehr wichtigen Aspekt. Den Versuch, die phänomenale und erfahrene Welt eines einzelnen Kindes, das in der Abteilung lebt, zu verstehen und zu beschreiben. Auf die Beziehung Goodes zu dem institutionalisierten Kind, werde ich in den folgenden Abschnitten genauer eingehen.



Rubella-Kinder und soziale Konstruktionen

In der von Goode aufgesuchten Abteilung leben die Kinder in einer „totalen Institution". Sie leben mit der Aussonderung, der Organisation und der reglementierten Härte, die Goffman (1961), als auch die Medien während der Ära der „Deinstitutionalisierung" (70'er und 80'er Jahre) veröffentlichten (Goode, S. 8:). Die Kinder der Abteilung leben ein sozial sehr begrenztes Leben und agieren mit nur zwei Arten von Personen:

1. Mit dem professionellen Klinikpersonal und ihrer Abteilung bzw. Station an sich.

2. Mit dem Lehrpersonal der Schule, sowie den Menschen, die sie sich um ihre Versorgung kümmern („direct-care").

Außer dieser sozialen Homogenität existieren, in der vereinfachten und aus der Gesellschaft „herausgeschnittenen" Welt der staatlichen Institution, beträchtliche Unstimmigkeiten darüber, wie die Handlungen und Verhaltensweisen der taub-blinden Kinder zu interpretieren sind. Durch die schmale Bandbreite an Gesellschaft im Hospital, die nur drei Arten von Personengruppen (die dritte ist „der Patient") einschließt, stellt die Existenz von multiplen Persönlichkeiten für Kinder mit geistiger Entwicklungsverzögerung und schweren Mehrfachbehinderungen, einen bemerkenswerten und interessanten Forschungsbefund dar.

Von dem Phänomen der multiplen Persönlichkeit erfährt Goode schnell durch die Teilnahme an Diskussionen mit den Betreuern, die die Einschätzungen der professionellen Klinikbelegschaft bezüglich einiger Kinder ernsthaft in Frage stellt. Zynische und geringschätzige Bemerkungen des Personals folgender Art fallen: „Dieser Arzt weiß doch kein bißchen über Dawn.", „Er sieht ihn alle sechs Monate für zehn Minuten und denkt, er könne mir sagen, was ich mit ihm zu tun habe; ich kümmere mich jeden Tag um ihn." Diese Bemerkungen werden Aushängeschilder für das, was sich als soziologisch interessantes Phänomen herausstellt, daß von großer Bedeutung für die Kinder mit Taub-Blindheit ist. Diese Unstimmigkeiten bezeichnen, was Garfinkel als den „organisatorisch fleischgewordenen bzw. verkörperten Charakter" der Kinder beschreibt. Dieses Konzept führt den Leser zurück zu der Annahme, daß alle Objekte und Menschen Konstruktionen und Teilnehmer der unmittelbaren Umstände, in denen sie sich befinden bzw. selbst eingefunden haben, sind. Diese taub-blinden Kinder sind auf die Weise sozial konstruiert, daß ihren Körpern und Handlungen, Leben, Form und Sinn durch unmittelbare, soziale Beziehungen und Praktiken, die sie umgeben und an denen sie teilhaben, gegeben wird. Es wird den Kindern zugewiesen „multiple" zu sein, als auch widersprüchliche Persönlichkeiten bzw. Identitäten in der Mikrosoziologie der „Angesicht - zu - Angesicht - Beziehungen" (face - to - face - relations) aufzuzeigen. Die Ärzte schätzen diese Kinder durch ihre Visiten ein und die Betreuer (direct-care-staff) erleben die Kinder durch die Organisation ihrer versorgenden und unterrichtenden bzw. schulischen Hilfe. Auf der Station kursieren folglich zwei verschiedene Versionen bezüglich der Kinder: Die klinische, und die versorgende, betreuende, begleitende Version. Jede Version reflektiert die sehr praktische Beziehung, wie auch die Arbeit, die von diesen beiden, sehr unterschiedlichen Formen der sozialen Verbundenheit, gefordert wird. Die Ärzte betrachten die Kinder „mit den Augen der Medizin (der Entwicklungspsychologie, der Pathologie der Sprache)" und es überrascht folglich nicht, daß sie aus ihrem Blickfeld gesehen, die am „geringsten funktionierenden" Kinder im Hospital sind, die nur über wenige, menschliche Qualitäten verfügen, als auch kaum Aussicht auf Besserung haben. In der Tat gelten sie für die Ärzte als so zurückgeblieben und behindert, daß es schwer fällt, sie als Patienten zu behandeln. Ist die Aufgabe der Ärzte primär zu diagnostizieren und zu heilen, so sind diese Kinder schreckliche Partner für sie, denn mit ihnen ist schwer zu arbeiten. Sie sind schwer zu behandeln und es ist unmöglich sie zu heilen. Goode zeigt Verständnis für die Ärzte, da er sich vorstellen kann, wie frustriert sich diese Menschen in der professionellen Arbeit mit den Rubella-Kindern fühlen müssen. Leider reflektiert das derzeitig offizielle Habilitationsprogramm die Frustrationen des professionellen Personals ganz offensichtlich. Die Existenz des „medizinischen Modells" ist, zu dem Zeitpunkt der Forschungen Goodes, dominant. D.h., daß die „klinische Identität" die offizielle Identität der Kinder bedeutet. Das betreuende Personal hingegen erkennt die Kinder, laut Goodes Beobachtungen, als Teil ihres alltäglichen Lebens an, der bereits seit langer Zeit mit ihnen in Verbindung steht. Sie kümmern sich darum, ihnen die Basiskompetenz der Lebensaufgaben und deren Bewältigung zu vermitteln. Die Basis für die Persönlichkeit bzw. die Identität der Kinder wird praktisch durch die Routinearbeit der Betreuer gelegt. Auf der Station werden den Kindern Spitznamen gegeben. Diese Namen bezeichnen die unterschiedlichen Erlebnisse, die die verschiedenen, betreuenden Personen, mit „ihren" Kindern haben. Es kommen z.B folgende Wortschöpfungen zustande: „Die/ Der Kooperative/ r", „Die/ Der Aggressive/ r", „Die/ Der Beschmutzende/ r", „Die/ Der Masturbierende/ r", „Die/ Der Verwöhnte/ r", etc.

Mit allen Kindern der Station zu arbeiten erweist sich als schwer, wenn nicht sogar unmöglich.

Das Arbeitsmotto der Betreuer, Goode eingeschlossen, ist: „Zu viele Kinder, um die sich zu kümmern ist, zu wenig Leute, zu wenig Zeit." Die andauernde Arbeit (fünf Tage die Woche) mit „schwer zu erreichenden" Kindern brennt aus. In der Zeit, in der Goode in der Institution arbeitet, wechseln zahlreiche Betreuer ihren Job oder lassen sich versetzen, weil sie dem Job nicht mehr gewachsen sind bzw. diesen nicht mehr ertragen können. Er sieht einige Generationen des Personals kommen und gehen. Weiterhin beobachtet er, daß nur die, die wirklich kompetent sind und unbedingt an dem Programm teilnehmen wollen dabeibleiben und durchhalten. Betreuer, als auch Mediziner sind in eine Art praktische Form von sozialer Konstruktion der Kinder mit Rubella-Syndrom verwickelt. Goode stellt eindeutig fest, daß das betreuende Personal über zuverlässigeres und konkreteres Wissen bezüglich der Kinder verfügt, als das professionelle, medizinische. Interessiert er sich dafür, was ein bestimmtes Kind hören und verstehen kann, so beginnt er meist ein Gespräch mit einem Betreuer, der mit diesem Kind vertraut ist. Die medizinischen Gutachten liest er nicht. Von der medizinischen Belegschaft werden Programme für die Kinder aufgestellt ohne, daß das vollständige Personal

(Ausschluß der betreuenden Personals) konsultiert wird. Hierbei handelt es sich um ein grundsätzliches Problem innerhalb des Gesundheitswesens bzw. der sozialen Dienstleistungen. Das Treffen von Entscheidungen wird ganz in die Hände der Ärzteschaft gelegt, womit sämtliche Entscheidungen wie selbstverständlich abgegeben werden. Das Leben der Kinder in der Institution wird also von den zwei Versionen dominiert bzw. über diese definiert. Sie sagen aus was sie und wer sie sind: „Sozial eingebundene" schlechte Patienten einerseits und zu versorgende Objekte bzw. Schüler/innen andererseits. Auch, wenn die Auffassung des Pflegepersonals detaillierter und richtiger ist, muß ernsthaft bedacht werden, daß die Kinder in erster Linie Kinder wie alle anderen auch sind. Kinder die möglicherweise eine eigene Version von dem haben wer sie sind. Goode bemerkt, daß sich ihr Leben auf der Station, als Konsequenz ihrer Machtlosigkeit die eigene Situation zu definieren, dem eines, sich in der Dressur befindenden, Tieres ähnelt. Die Bereiche, Inhalte und Gestaltungsformen ihres „individuellen Bildungsplanes" ziehen keinesfalls die eigenen Ideen und Ziele der Kinder in Erwägung. (Diese Bildungspläne wurden von den Ärzten verordnet und daraufhin von den Betreuern außer Kraft gesetzt. Dies ist ein weiteres Anzeichen für die Kämpfe, die sich beide Parteien tagtäglich liefern.) David Goode wendet sich an die Ärzteschaft und bemängelt ihre Vorgehensweise bezüglich der Bildungspläne. Hier wird ihm mitgeteilt, daß „solche Kinder" keine Ideen und/ oder Ziele hätten - eine unglaubliches, als auch entmenschlichendes Statement. Die Dehumanisierung als Absicht der Humanisierung scheint etwas zu sein, daß im Gesundheitswesen und/ oder im Sozialwesen, zur Gewohnheit mutiert ist. Diese Tatsache wird auch Goode schon nach kurzer Aufenthaltszeit im Hospital klar. Vor allem zur Essenszeit wird er darauf aufmerksam, denn das Essen in der Institution ist eine Massenabfertigung. Ich werde die Situation, die während der Mahlzeiten herrscht, kurz schildern:

Alle Kinder befinden sich in einem Sitz im Essensraum. Sie haben Lätzchen um den Hals drapiert. Diese sind auch auf ihren Tischen plaziert, auf denen ein Plastiktablett steht. Die Lätzchen dienen als „Vosichtsmaßnahme", damit die Kinder, die während des Essens „herumsauen", ihre Kleidung nicht beschmutzen.(Die Kinder schaffen es dennoch immer wieder den Tisch und ihre Kleidung über und über mit dem Essen zu bedecken.)

Besondere Aufmerksamkeit widmet Goode einem Mädchen, daß sich seinem Urteil nach sehr ungewöhnlich verhält. Sie hält in der einen Hand eine Gabel während sie die andere, nicht essende, Hand auf unbequeme Weise über dem Kopf verschränkt. Goode erinnert diese Haltung an einen „Kriegsgefangenen". Er beobachtet das Mädchen 15-20 min., bevor er ein Mitglied des Personals nach ihrem Verhalten befragt. Er fragt, da er sich diese unbequeme, unnatürliche Haltung nicht erklären kann. Goode erfährt auf seine Frage hin eine unglaubliche Geschichte. Das Mädchen hatte in der Vergangenheit häufig „nach Essen gelangt und es gestohlen". Dies tat sie mit der linken Hand, während sie mit der rechten Hand aß. Um dieses inakzeptable Verhalten zu stoppen, wurde ihr eine Stimulation, in Form von Elektroschocks, zugefügt, um eine Abneigung zu erzielen. (Ihr wurde eine verkabelte Jacke angelegt, die bei Bewegung die elektrischen Impulse sendete.) Als Ergebnis bekam Kim, so ist ihr Name, einen Schock, wenn sie nach Essen griff. Sie bekam jedoch gleichermaßen einen Schock, wenn sie vom Essen zurückwich. Schließlich verfiel sie in einen Zustand, in dem sie sich kontinuierlich schüttelte. Daraufhin wurde eine weitere Prozedur vorgenommen. Dieses Mal wurde eine „cattle gun" eingesetzt, durch die die Schocks in kleinere Mengen dosiert werden konnte. So konnte das Gewicht der erworbenen Störung verlagert werden. Die „Behandlung" war effektiv. Kim lernte nicht die linke Hand auf den Tisch zu legen. Das Ergebnis der Prozedur war die, von Goode beobachtete, unnatürliche Körperhaltung.

Diese Behandlungsmethode erklärt, was Goode mit der Aussage „Dressur der Tiere" ausdrücken will. Ich persönlich halte diese Vorgehensweise für eine seelische Grausamkeit. Es gibt alle Arten von Fragen, die bezüglich dieser Behandlungsmethode gestellt werden müssen. Zuerst einmal ist der Gebrauch von Elektroschocks im allgemeinen dringend zu hinterfragen. Zweitens, wessen Problem ist es, daß Kim Essen stiehlt? Wenn ein zehnjähriges Kind hungrig ist, warum gibt man ihm nicht mehr zu essen? Drittens, warum besteht so großes Interesse daran, daß die Kinder nicht ihre Hände beim Essen benutzen?

Die Begründung des Personals für das „Muß" mit Besteck zu essen, ist folgende:

Durch das Essen mit Besteck sehen die Kinder normaler aus. Folglich bringt ihnen die Gesellschaft größere Anerkennung entgegen.

Goode stellt sich diesbezüglich die Frage, weshalb es sozial inakzeptabel für Kinder, oder auch Erwachsene, mit Taub-Blindheit sein sollte, wenn mit den Händen gegessen wird. Viel wichtiger noch, wessen Problem war das, wenn es so sein sollte? Goode erkennt dieses Problem als Problem der Gesellschaft und nicht als Problem der taub-blinden Kinder, womit er meine volle Zustimmung bekommt. Zur Zeit seiner Nachforschung siegte allerdings eine andere Logik.

Der Vorgang des Essens eines taub-blinden Menschen besteht natürlicherweise, ohne Anweisung geben zu müssen, darin, mit den Händen zu essen. Es bietet ihm eine Vielfalt an Techniken sein Essen zu zerkleinern, zu ertasten, anzufassen und zum Mund zu führen. Goode glaubt, daß es von großer Wichtigkeit für sie ist, ihr Essen zu fühlen. Er erlebt, daß die Menschen, wenn sie es können, ihr Essen anfassen und daran riechen. Sie setzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Sinne dazu ein. Goodes Schlußfolgerung aus dieser Einschränkung ist folgende: Diese Verhaltenseinschränkung zeigt, daß die Rubella-Kinder ihren persönlichen Weg Mensch zu sein, ihre Wahl und Vorliebe nicht leben dürfen. Sie werden in den, für sie erstellten, Programmen völlig ignoriert.

Die Einschränkungen zeigen deutlich, welche Vorstellung die professionellen Kräfte von „Lebewesen" wie Kim haben. Wenn solch permanent brutale Behandlungsweisen eingesetzt werden, so kann es nur heißen, daß es sich bei Kim, um eine wertlose Kreatur handelt. Es muß angenommen werden, daß die Kinder nicht registrieren und fühlen, was (mit ihnen) geschieht.

Ein Jahr intensiver Beobachtungen, sowie zahlreiche Videomitschnitte Goodes, beweisen das Gegenteil. Viele, aus Goodes Beobachtungen stammende Daten, deuten auf die sehr aktiven, mentalen Prozesse der Kinder hin. Auch ihre soziale Teilnahme und Verbundenheit zeigt komplexe Formen. Nachdem Goode einige der gesammelten Untersuchungs- bzw. Beobachtungsergebnisse bei einer Forschungssitzung mit der Ärzteschaft und dem Betreuungspersonal präsentiert, bekommt er von einigen Forschern anonyme Briefe. In diesen wird ihm angeraten einen Psychiater aufzusuchen, weil er der Annahme ist, daß die Rubella-Kinder eine eigene Perspektive der Dinge bzw. des Lebens haben. Voller Zynismus wird ihm weiterhin großes Interesse an der Perspektive der Kinder mitgeteilt - man fordert ihn sehr ironisch zu einer Schilderung dieser auf. Das Pflegepersonal hingegen steht dem vertraut gewordenen, „involvierten Beobachter" keineswegs skeptisch gegenüber. Sie heißen seine Ergebnisse enthusiastisch willkommen. (Wenn nicht aus anderen Beweggründen, dann sicherlich, weil seine Analysen gegen die medizinische Situation sprachen und sich somit als Art Teilnehmer an der grundsätzlich bestehenden Abwehr gegen die Ärzte und das Hospital herausstellte. Goode nimmt jedoch nicht an, daß das die einzigen Beweggründe waren, die zu ihrem Verhalten beisteuerten.)

Goode ist interessiert daran, soviel Dinge wie nur möglich über die Empfindungen und Wahrnehmungen der Kinder herauszufinden. Er beauftragt die Betreuer verstärkt darauf zu achten, was die Kinder wollen. D.h., daß er eine genaue Beobachtung ihrer Ziele bzw. der Dinge, die sie persönlich für sich wählen wollen verlangte. Die Festsetzung einer Verständigungsform mit den Kindern nach ihren eigenen Bedingungen würde nicht nur für uns zu verstehen bemerkenswert sein, sondern auch für unsere Bemühungen zu unterrichten und zu sozialisieren.

Goode wird grundsätzlich vom pflegenden Personal unterstützt, da ihr langzeitiges Engagement ihnen erlaubt, die Dinge ähnlich zu betrachten. Sie schätzen es zu wissen, daß es eine integrierende Hilfe für ein Kind ist die Ziele des Programms zu verstehen. Mit dem Wohlwollen der Pfleger und dem Zweifel der Mediziner beginnt Goode die spezielle Untersuchung der phänomenalen Welt eines besonderen Kindes, mit dem Rubella-Syndrom, das auf der Station untergebracht ist.



Zugang zu Christina

Normalerweise halten wir es für selbstverständlich in einer intersubjektiven Welt zu leben.

In der Institution existieren nun gewissermaßen zwei Welten: Eine, die von David Goode und dem Personal geteilt wird („die normal empfindende bzw. wahrnehmende") und eine, die von den „Heimansäßigen" bewohnt wird. Es ist sozusagen eine entschiedene Sache, daß es Goode nur möglich sein kann einen vertrauten, anhaltenden, interaktiven Kontakt zu ihnen aufzubauen, wenn er in ihre Welt vorzudringen vermag. Ein bedeutendes Hindernis für diese Arbeit sind die Abweichungen der Wahrnehmungsfähigkeiten, die die unterschiedlichen Bewohner der Institution entfalten: Sie leben keine taub-blinde Welt in Freiheit. Vielmehr zeigt jeder von ihnen eine spezifische Darstellungsweise von kognitiven Fertig- und Unzulänglichkeiten. Als Konsequenz dessen entschließt sich Goode dazu, sich auf eine neunjährige Bewohnerin des Hospitals zu konzentrieren und eine Reihe täglicher Zyklen (24- Std.-Perioden oder länger) mit ihr zu verbringen, um „durchschnittliche Tage" in ihrem „gewöhnlichen Leben" zu teilen. Der Name des Kindes ist Christina (Chris).

Zusätzlich zu der natürlichen Beobachtung ihrer Verhaltensweisen beschäftigt sich Goode mit Videoaufnahmen. Er achtet auf die tägliche Stationsroutine, als auch auf andere, in Wechselwirkung miteinander stehende, Handlungsweisen („Nachahmungen bzw. Mimiken" und „passive Gehorsamkeit"). Die langzeitige Zusammenarbeit mit Chris ermöglicht Goode den Zugang zu Einzelheiten innerhalb der Beobachtungen, die nicht zugänglich für medizinisch Praktizierende sind, die das Kind nur während ihrer relativ kurzen, durchstrukturierten und „nicht alltäglichen" Untersuchungen sehen. Aus diesen Untersuchungen wollen sie dann passive Gehorsamkeit, Apathie und eine nicht lebenswerte Kreatur erkennen. Ich halte diese Erkenntnis für unmöglich und kann sie auch nicht teilen.

Goode sammelt einige Informationen über die Fähigkeiten ihrer Wahrnehmung, ihrer Motorik, ihrer Sprache und ihres Verhaltens, auf die ich im nachfolgenden Text näher eingehen werde.



Medizinische und verhaltensspezifische Gesichtspunkte

Mit Hilfe von Aufnahmen medizinischer Untersuchungen, Entwicklungseinschätzungen und Interviews mit der Mutter des Kindes wird eine Art Profil erstellt. Christina wurde während ihrer pränatalen Existenz als Fötus von einem bösartigen, destruktiven Virus, namens Rubella (in Deutschland bekannt als die Röteln), angegriffen. Dieser Virus dringt für gewöhnlich während der zweiten oder dritten Schwangerschaftswoche in den Blutkreislauf der Mutter ein. Dort greift er die sensiblen, sich schnell vermehrenden Zellen des Embryos (rubella embryopathy) an und verursacht somit erhebliche Funktionsstörungen des heranwachsenden Lebewesens. Als Resultat dieser viralen Vorgänge wurde auch Chris mit schweren Mehrfachbehinderungen (Rubella-Syndrom), bilateralem grauen Star, Taubheit (der intakte Mechanismus Christinas Gehör existierte von Geburt an nicht), Störungen des zentralen Nervensystems (a low-grade diffuse encephalopathy), Beeinträchtigungen der normalen Herztätigkeit (congenital heart disease: patent ductus and stenosis) und abnormen Verhaltensmustern, sowie schwerer Entwicklungsverzögerungen geboren.

Der Grad und die Natur der Mehrfachbehinderungen des Mädchens stellen sich als schwer zu bestimmen heraus, da die ärztlichen Untersuchungen, die solche Entschlüsse hervorbringen können, gewöhnlich für normal wahrnehmende und kommunizierende Menschen konzipiert wird. Christina wurde im Alter von fünf bis sechs Jahren für taub, blind und geistig zurückgeblieben erklärt. Von diesem Tag an ist sie in der staatlichen Institution für Kinder ihresgleichen untergebracht.

Christinas auditorische Scharfsinnigkeit unterliegt bedeutenden Veränderungen bzw. Abwechslungen. Ist sie motiviert dazu, so scheint sie in der Lage zu sein, sich an dem Klang Goodes Gitarrenspiels zu orientieren. In einer Reihe „natürlicher Experimente" wird beobachtet wie sie, in Orientierung an seiner Gitarre, von einer Entfernung über zwanzig Fuß „nach Hause" findet. Chris liebt die Stimulation durch Töne aller Art; besonders mag sie Musik mit regulären Rhythmen und vielfältigen Frequenzen. Sie lauscht, wenn Goode ihr ins Ohr singt oder spricht (sie benutzt dafür eher ihr rechtes als ihr linkes Ohr und bringt sich eigenständig in eine Position, aus der sich ihr Ohr direkt auf den Reiz des Tones richtet). Es ist schwer die Qualität des Reizes, den sie durch den Ton empfängt, zu beurteilen. Einige Mitglieder des Personals teilen jedoch den Glauben mit Goode, daß sie eine Vielfalt von Tönen zu empfangen in der Lage ist, wobei sie allerdings Probleme mit der „Bearbeitung" des Tones (wie ihn Hörende „bearbeiten" können) hat. Was ihr Sehvermögen betrifft, so ist sie fähig, sich visuell an großen Gegenständen zu orientieren, die ihr im Weg sind. Sie „wehrt" diese normalerweise „ab", indem sie ihren rechten Arm gegen sie einsetzt. Sie ist auch in der Lage dazu, Dinge zu „inspizieren", die sich in sehr naher Entfernung zu ihr befinden. Goode beobachtet ebenfalls, daß sie beim Essen ihre Gabel im Abstand von ungefähr zwei Inch vor ihr rechtes, „gutes" Auge hält. Sie beabsichtigt so die Farbe und Konsistenz der Speisen zu untersuchen. Christinas visuelle Scharfsinnigkeit variiert in Abhängigkeit von Faktoren wie z.B. ihrer emotionalen Befindlichkeit, dem Platz an dem sie sitzt, ihrer Motivation, sowie der Qualität der visuellen Stimulation.

Das Mädchen orientiert sich in stark ausgeprägter Form an Berührungen. Sie verwendet ihre Zunge als primäres Organ der Wahrnehmung. Wann immer es ihr möglich ist leckt sie an allem, was sich in ihrer Reichweite befindet. Goode lernt diese Tätigkeit, als Christinas „Art Fragen zu stellen" zu verstehen („Was ist das?"). Er beobachtet ihr wiederholtes Lecken an glatten Oberflächen. Es ist offenbar mit der Absicht verbunden sensorische Befriedigung zu erlangen. Chris ist kitzelig und ihre übliche Antwort darauf, am ganzen Körper berührt zu werden, ist Gelächter. Obgleich sie leicht zwischen Strukturen verschiedener Arten, durch das Ertasten mit den Händen, unterscheiden kann, scheint ihr Sinn für Hitze und Kälte, im Gegensatz zu dem Goodes, gering zu sein.

Christina genießt körperliche Aktivitäten aller Art und ist in dieser Hinsicht ein sehr aktives taub-blindes Kind. Sie erfreut sich daran mit Goode zu interagieren. Dieses geschieht, indem er sie auf die Arme hebt so, daß sie gleichzeitig mit ihren Armen um sein Genick, und mit ihren Beinen um seine Taille fassen kann. In dieser Position verharrend, beginnt sie ihren Kopf schwingend und schaukelnd hin und her zu bewegen. Oft schwingt Goode sie hin und her und wirft sie spielerisch in die Luft - in diesen Momenten scheint sie ihre Hilflosigkeit zu genießen, sie gibt sich den Empfindungen der Tätigkeit hin, die nur für sie vorgesehen ist.

Während dieser Aktivitäten reibt sie oft auch ihre Genitalien an Goode. Dieses Verhalten wird weder gefördert, noch bestraft.

Zur Musik, sowie bei starkem Lichteinfall, bewegt Chris ihren Körper ganz charakteristisch

(autophotic reaction). In einem Leben, in dem Leistungen schwer zu messen sind, ist Chris jemand, der im Bereich der grobmotorischen Interaktion und im Gebrauch von Berührungen Bemerkenswertes leistet.

Zur Zeit seiner Untersuchung stellt Goode fest, daß Christina nie beigebracht wurde sich selbst zu versorgen (sich zu pflegen etc.) oder zu essen. Sie ist nicht in der Lage die Dinge, die zur Selbsterhaltung gehören ohne fremde Hilfe auszuführen. Es passieren auch häufig „Unfälle" im Bereich des Urinierens und Ausscheidens. Als Geste des guten Ansinns gegenüber Chris und dem Pflegepersonal übernimmt Goode die damit verbundenen Aufgaben. Das Mädchen ist weiterhin nicht in der Lage sich anzuziehen, sich zu waschen oder zu baden und ohne Beaufsichtigung zu laufen. Taub-.blinden und in ihrer Entwicklung gestörten Menschen derartige Fertigkeiten beizubringen ist ein sehr zeitaufwendiges und schweres Unterfangen. Aufgrund der Umstände, die normalerweise in der Institution herrschen (Personalmangel und Patientenüberschuß), hat Chris es nie gelernt solche Fertigkeiten zu entwickeln bzw. zu bewältigen. Sie konnte natürlich selbst ausgearbeiteten Vehaltensstrategien nachgehen, um eigene Zufriedenheit bzw. Befriedigung zu erlangen. (Sie ging z.B., ohne einen Wink dazu bekommen zu haben, zum Musikraum und verschaffte sich selbst Zugang zu diesem.) Die Bewältigung von Prozeduren wie beispielsweise dem Anziehen und dem Aufsuchen der Toilette zählte jedoch nicht zu „ihren Strategien". In den Bestimmungen eines Hospitals werden diese Dinge gewöhnlich als Routinesache verrichtet. Christina ist immer sauber angezogen, ob sie freiwillig daran teilnimmt oder es gewaltsam verweigert.

Betreffend ihrer Kommunikationsfertigkeit scheint sie keinerlei Bewußtsein davon zu haben,

was linguistische Symbole sind. Das soll allerdings nicht heißen, daß sie nicht regelmäßig mit Goode und den Betreuern kommuniziert. Um ihre Wünsche zu vermitteln benutzt sie körperliche Handlungen, die sich auf ihre hintergründigen Erwartungen beziehen. Läuft Christina beispielsweise zum Essenssaal und setzt sich auf den Tisch, so heißt dieses: „Ich bin hungrig." Geht sie zum betreuenden Personal und wartet dort, so bedeutet es: „Ich möchte raus." Sie nutzt auch körperliche Bewegungen, um Goode mitzuteilen, daß er mit ihren gemeinsamen Aktivitäten fortfahren oder aufhören soll. Sie greift z.B. nach seinem Arm und macht eine „schrummelnde Bewegung", um ihm zu zeigen, daß sie ihn gerne Gitarre spielen „hören" möchte. Verlangt sie danach, daß er eine Interaktion beendet, stößt sie ihn weg.

Christinas Sprachlehrer hat ihr das Wort „mehr" beigebracht und Goode sah es sie symbolisch (durch Gestik) darstellen (signing exact english symbol), wenn er die Tätigkeiten nachdrücklich strukturierte und sie überredete. Ebenfalls hat sie das „Essen-Zeichen" gelernt, doch benutzen sah man es sie noch nie.



Christinas Verhalten - Ein Gesamtüberblick

Chris scheint eine wißbegierige und aktive Intelligenz zu besitzen, die jedoch in einem extrem beeinträchtigtem Körper eingeschlossen ist. Goode spürt dieses, sobald er gegenwärtig ist und im Rahmen seiner Forschungssitzung beginnt mit ihr in Interaktion zu treten. Alle Arten der von ihr zu erlangenden, körperlichen Befriedigung, als auch der Zufriedenstellung ihrer Empfindungen dienen ihr als Orientierung. Sie zeigt ihre Unzufriedenheit, sobald die Dinge nicht so laufen „wie sie sie gerne hätte". Sie erstrebt einen Kontakt zu den Erwachsenen der, im Vergleich zu der Entwicklung anderer Bereiche, sozial anspruchsvoll ist.

Bei einer Konferenz der Institution merkt ein Verwaltungsbeamter an, daß Christina Goode spielend um den kleinen Finger wickeln kann. Goode gesteht, daß diese Beobachtung auf eine bestimmte Weise der Wahrheit entspricht. Er gesteht sich diese Schwierigkeit ein und schlußfolgert, daß Christinas primäre Probleme ein Resultat des Mangels an intaktem Hör- und Sehvermögen ist, auf welches WIR unsere Systeme der symbolischen Kommunikation aufbauen und nach dem WIR unsere praktischen Aktivitäten der Interaktion organisieren. Das bedeutet nicht, daß das Mädchen keine Kultur hat, sondern daß ihr in vielen Lebensbereichen die Tätigkeiten und Fähigkeiten, die von den „normalen" Mitgliedern der Kultur manifestiert wurden nicht klar bzw. augenscheinlich geworden sind.



Goodes Suche nach Ursprüngen

Aufgrund bestimmter Verhaltensweisen der Institutionsbewohner dekonstruiert Goode die Konstruktion des Personals. Er wählt diese Vorgehensweise, um die logischen Untermauerungen hinter dem System der Bewohner zu entdecken. Durch dieses Verhalten hofft Goode in der Lage zu sein einige Fähigkeiten, die die Kinder haben hervorzulocken - Fähigkeiten, die ein Teil des Personals gewissermaßen „zu verstecken" versuchte. Goode hat das Ansinnen die Dinge aus der Perspektive der Kinder zu sehen und zu verstehen. Die Inspiration dazu zieht er sich aus den Schriftstücken von Jean Itard. (Jean Itard kümmerte sich um die Habilitation des Wolfskindes Victoire de Avyron, die ihm jedoch mißglückte.) Er dient ihm als Anstoß - Goode stellt sich dieselbe Aufgabe, die sich zuvor schon Jean Itard stellte. Er will dem ausweichen (mit dem Jean Itard versagte), die Kinder als tabulae rasae zu sehen, als Gestalten, ohne Kultur, die eine kulturelle Aufbesserungsarbeit benötigen. Bezüglich Itards Versagens Victoire zu habilitieren bzw. zu unterrichten, stellt Mannoni (1972), auf den Goode sich bezieht (S. 23), ganz einwandfrei fest, daß „die Fundgrube" Itards kulturellen Wissens, in den Caune Wäldern (in diesen lebte Victoire die ersten sieben oder acht Jahre seines Lebens) unerheblich gewesen wäre. Dies hätte er im Falle einer Lebensbegleitung in den Wäldern feststellen können. Dort hätte Itard von Victoire lernen müssen, um überleben zu können. Betrachtet man allerdings das Zeitalter (18. Jahrhundert) Itards Untersuchungen, als auch den derzeitigen Wissensstand der französischen Kultur, so ist eindeutig klar, daß in diesem Zusammenhang kein Verständnis für Victoires Welt zu erwarten war. Nachdem sich Goode gedanklich mit Jean Itard und Victoire auseinandergesetzt hat, beschließt er, metaphorisch ausgedrückt, „in die Wälder zu gehen".



Goodes Selbstversuche

Goode, der selbst hört, sieht und spricht, glaubt, daß er durch eben diese Tatsachen die Leistungen seiner Arbeit mit Christina behindert. Er will den Beginn eines Dialogs „in Christinas Worten". Für ihn besteht allerdings das Problem festzustellen, „was" ihre „eigenen Worte" sind. Goodes ständig wachsendes Bewußtsein darüber, daß er das größte Hindernis ist, versperrt ihm den Zugang zu ihrer Welt. Ein regulärer Teil seiner Arbeit ist interesssanterweise die Arbeit an ihm und über ihn selbst. Er beginnt eine Reihe von Experimenten, in denen er in seinem eigenen Leben Taub-Blindheit simuliert, sich ernsthaft mit der Analyse von Träumen beschäftigt, sowie seine schriftlichen Daten über Chris kritisch reflektiert. Diese „Eigen-Untersuchungen" sind entscheidend für Goodes Arbeit mit Christina, aber beinhalten nicht wirklich eine direkte Beteiligung ihrerseits. Zuerst versucht Goode sich dem Milieu ihrer Wahrnehmung durch den Gebrauch von Ohrenstöpseln und Augenbinden zu nähern. Er entdeckt, daß er schnell die notwendige Anpassung erlernt, die das charakteristisches Merkmal der sehenden und hörenden Welt ist und, die sie als selbstverständlich annimmt. D.h. aber nicht, daß Goode nicht viel Schwierigkeiten mit dieser hat. Die kognitiven Kategorien, die er erlernt hat, erlauben ihm auf eine Art taub und blind zu sein. Diese Art ermöglicht ihm einen kleinen Vergleich zu der Taub-Blindheit (congenital) der Stationsbewohner zu erfahren. Sie sind, im Gegensatz zu Goode, taub-blind und kennen keine anderen Umstände. David Goode hat trotz der Simulation von Taub-Blindheit das ganze Wissen, als auch die Erinnerungen aus seinem sonstigen, „normalen" Leben. Abgesehen davon ist er ein Taub-Blinder auf Zeit und bestimmt diesen Zustand selbst. Bei den Mahlzeiten, die Goode taub-blind zu sich nimmt, hat er die größten Probleme sich in Chris und die anderen Kinder hineinzuversetzen. Aus der Erfahrung eines Sehenden und Hörenden heraus weiß er, wie sich die Nahrungsmittel anfühlen und worum es sich, bei dem, was er ißt handelt. Er erlebt definitiv nicht die Taub-Blindheit, die die Kinder erfahren. Sie tasten, fühlen, riechen an ihrem Essen und überprüfen es mit ihrem restlichen Sehvermögen. Verhaltensweisen, denen Goode während seiner Mahlzeiten als Taub-Blinder nicht nachgeht und zu denen er zu tun keine Motivation hat. Seine simulierte Taub-Blindheit auf Zeit ist ihm allerdings als Hilfe von Nutzen, sich mit Christina und den anderen Kindern zu identifizieren. Goode empfindet die Welt, in der man sich als taub-blinder Mensch bewegt als sehr klein, begrenzt und irgendwie gefährlich. Er beschreibt, daß die Welt zu einem unmittelbaren körperlichen Raum zusammenbricht, es sei denn, sobald keine Vertrautheit mit der Umgebung, in der man sich befindet vorhanden ist. Ohne eine solche Vertrautheit, so stellt er fest, ist die Welt der taub-blinden Menschen eine ausgesonderte und gefährlicherweise „nur" auf sie selbst gerichtete Welt. Da Goode während seiner Zeit als Taub-Blinder zahlreiche „Unfälle" zustoßen und er sämtliche Objekte zerbricht oder zerstört, ist es leicht für ihn zu lernen. (Er erwähnt, daß seine Frau und seine Katzen sehr unter der unwürdigen Behandlung zu leiden hatten, er jedoch seine Lehre aus dieser Zeit ziehen konnte.)

Goode registriert nicht nur, daß die nicht zu sehende und nicht zu hörende Welt gefährlich für ihn ist, sondern auch, daß er eine Gefahr für diese darstellt. Er ist schnell frustriert und ungeduldig. Die Simulation dieser Taub-Blindheit erlaubt ihm sich bezüglich einiger Aspekte mit Chris zu identifizieren.

Ein weiterer Eigenversuch Goodes betrifft die emotionale Ebene. Goode steht auf bestimmte Weise mit Christina in Verbindung. Je mehr Zeit er mit ihr verbringt, desto kraftvoller beeinflussen die, mit dieser Verbindung zusammenhängenden, Emotionen die gesamte Nachforschung. Er bezweifelt, daß er ohne diese starken Emotionen bereits soviel für das Mädchen getan hätte. Gleichzeitig sind diese Emotionen gefährliche Einflüsse für den Blickwinkel aus dem Goode Chris betrachtet. Eine Gefahr sind sie ebenfalls für die Beziehung, die er zu ihr hat. Er empfindet seine Gefühle als notwendig und gleichermaßen gefährlich für die Arbeit, die er sich als Aufgabe gestellt hat: „In Christinas Welt vordringen." Die Gefahr dieser Aufgabe wird ihm durch zwei Träume bewußt, die ihm seine verborgenen Emotionen zeigen. Den ersten Traum beschreibt er als seltsam. In diesem Traum geht es um Chris und Huey (ein Kind, daß auch in der Institution lebt). Beide sind erwachsen und miteinander verheiratet. Sie reden mit Goode über taub-blinde Kinder, danken ihm dafür, daß er sie gerettet hat und, daß er ihnen half einander zu finden und zu heiraten. Goode ist in dem Traum in der Rolle des Retters und/ oder Beschützers. Er fühlt den emotionalen Druck, den der Versuch ihren Dank seinerseits mit Dankbarkeit zu erwidern auslöst. Er kann den Dank nicht ohne einem Gefühl von Egoismus akzeptieren. Über diesen Traum denkt Goode nicht viel nach und hält ihn für erheiternd. Seinen zweiten Traum empfindet er jedoch als wenig erfreulich. Er beinhaltet eine Kombination von erschreckenden Geschehnissen und Symbolen, die in Verbindung zum Hören und Sehen stehen. In diesem Traum sieht er einen schmalen, hellen Punkt inmitten eines großen, schwarzen Himmels. Dieser Punkt beginnt zu wachsen. Sein Wachstum wird von einem kontinuierlich lauter werdenden Ton begleitet. An einer bestimmten Stelle angelangt wird der Punkt als ein schwarz-weißes Bild sichtbar. Dieses Bild stellt Christinas Gesicht in einem Auge dar. Als das Gesicht immer größer wird und schließlich aus dem Auge hervorquillt wird die, das Geschehen begleitende, Musik unerträglich laut. Goode fühlt sich ängstlich und verärgert, er schlägt bzw. tritt das Gesicht. Das Gesicht kehrt daraufhin in den Himmel zurück und die Musik verebbt, woraufhin Goode erwacht. Dieser Traum veranlaßt ihn dazu schweißgebadet zu erwachen. Da der Traum wiederkehrend ist und von überaus starken Emotionen begleitet wird ernennt Goode ihn selbst als wichtiges Verbindungsstück zu seiner Arbeit mit Chris. Er fühlt, daß er beide Träume als Art Erlaubnis zu verstehen hat - als Erlaubnis, daß ihn darauf hinweist in ihrer Welt zu sein. Nach einiger Zeit kommt er darauf, daß diese Träume verschiedene Teile seiner eigenen emotionalen Reaktionen Christina gegenüber repräsentieren. Ein Teil von ihm, sein Mitgefühl und Mitleid, möchte „ihr Gesicht von der Erde schaffen". Was er aus diesen Emotionen zu verstehen beginnt ist, daß es sich dabei um seine, und nicht um Christinas Emotionen handelt. Er wird sich darüber klar, daß Chris weder aus ihrem „Zustand" errettet werden, noch die Erde verlassen will, weil ihre Existenz so schrecklich unerträglich ist. Er sieht, daß es sich dabei nur um seine persönlichen Reaktionen handelt. Diese Differenzierung der Eigeninteressen des Helfers von denen der Person, der geholfen wird ist generell ein Problem in der Arbeit mit Menschen, also im Sozial- und/ oder Gesundheitswesen. Die Übung, seine selbst geschriebenen Forschungsexte über Christina kritisch zu untersuchen, hilft Goode das Hindernis, welches er vorerst in sich selbst sah zu beseitigen. Eine Sache, die Goode ganz deutlich beobachten kann ist, daß Christina keineswegs die „Outsider-Perspektive" bezüglich ihrer Welt und ihrer Handlungen teilt.

Läuft Chris, so ist deutlich sichtbar, daß die Bewegungen ihrer Arme spastisch, ihre Schritte zu groß und ihr gesamter Bewegungsablauf (ihrer Balance eingeschlossen) sehr unbeholfen sind. Sie läuft wenige Schritte, stoppt, starrt in die Sonne, rennt los, springt herum, lacht, setzt sich, steht auf, läuft usw.. Sie scheint die Sensationen, die ihr Körper mit sich bringt zu genießen. Auch, wenn klar ist, daß sie nicht korrekt läuft, so ist ebenfalls klar, daß es nur als inkorrekt deklariert werden kann, wenn man die dominante Kultur der Hörenden und Sehenden respektiert. Nur dann kann Christinas Laufstil als „abnorme Technik" bezeichnet werden.

Die Fragen, die sich stellen, sind:

1.) Wie können wir das bewerten was wir sehen?

2.) Ist es falsch sich abnorm zu verhalten?

3.) Muß abnormes Verhalten korrigiert werden?

Diesbezügliche Bewertungen scheinen eng mit Goodes einfachen Beschreibungen und direkten Erfahrungen mit Chris verknüpft zu sein. Auch, wenn Goode durch die kritischen Selbstversuche lernt, findet er noch immer keine einfache Technologie, mit der er seine Versuche vollenden kann. D.h., daß er keine Prozedur findet, welche ihn bei dem Übergang von der einen zur anderen Welt begleiten kann. Goodes Arbeit mit Chris zeigt nur einen simplen Fortschritt und zeitweise scheint es unmöglich zu sein die Kluft und das Bewußtsein, der jeweiligen Welt zu überschreiten bzw. zu durchbrechen. David Goode beginnt seine Welt als ein Bündel von biologischen und wahrnehmenden Mechanismen zu betrachten, die von Vorschriften bezüglich ihres Gebrauchs begleitet werden. Diese Mechanismen sieht er als eine Art Geschenk, daß ihm von seiner Familie und seinen Vorfahren gegeben wurde und, daß ihm erlaubt eine Reihe praktisches Wissen in seiner Welt zu produzieren. Diese Art an Wissen nahm eine Form an, eine ganz eigene Existenz, die er berücksichtigen mußte.



Zur Interaktion zwischen Goode und Christina

Die erste grundlegende Änderung, die Goode betreffend der Interaktionsstrategien einführt bestehen darin, daß er Christina erlaubt ihre gemeinsamen Aktivitäten zu organisieren während er sich passiv gehorchend verhält.

Als er dies das erste Mal tut, organisiert sie folgendes für Goode und sich:

Erste Aktivität („MMmmm...mmm...k...h."):

Christina bringt Goode in Position. Sie liegt, mit dem Gesicht nach oben, auf seinem Schoß und plaziert seine Hand auf ihrem Gesicht. Sie hält die Hand so, daß seine Handfläche auf ihrem Mund und sein Zeigefinger auf ihrem rechten, „guten" Auge liegt. Indem sie dann seinen Finger hochhebt und diesen auf ihr Auge fallen läßt zeigt sie ihm, daß sie möchte, daß er auf ihr Lid tippt. Als er diese Aufgabe freiwillig übernimmt lächelt und lacht sie. Bewegt sie Goodes Körper so zeigt sie ihm, daß er in ihr Ohr sprechen und mit den Fingern schnipsen soll. Während er auf Christinas Lid tippt, leckt und riecht sie gelegentlich an seiner Handfläche und summt sanft melodische Töne. Zu dieser Tätigkeit animiert sie ihn in etwa 10-15 min..

Diese Tätigkeit benennt Goode nach den Tönen, die Chris währenddessen von sich gibt (s.o.). Es fällt ihm schwer diese Aktivität in „natürlicher Sprache" (wie das Mädchen es ja offensichtlich auch nicht konnte) auszudrücken. Als er darüber schreibt wird ihm bewußt, daß er die gesamte Aktivität notwendigerweise in etwas umformt, daß Christina möglicherweise nicht beabsichtigt hat, als sie es in die Tat umsetzte.

Ein interessantes Beispiel zum Gebrauch von Kategorien „natürlicher Sprache" und dessen Sinn für die Institutionsbewohner ist der Gebrauch des Personals von der Kategorie „Spiel". Aktivitäten, die von den Kindern initiiert werden, werden vom Personal als „Spiel-Aktivitäten" und nicht als sachdienliche Absichten verstanden. Gewöhnlich ernten diese Tätigkeiten ein Lächeln des Personals oder eine Bemerkung, wie z.B.: „Niedlich." Nach Betrachtung der möglichen Hintergründe der Tätigkeiten der Kinder halte ich persönlich diese Reaktion für demütigend und mehr als absurd. Man versetze sich nur in ihre Lage. Dennoch gibt es hier eine interessante Parallele. Diese besteht zwischen der Annäherung bzw. Methode des Personals und Itards Verbindung zu den „Waldausflügen" mit Victoire. (Die Waldausflüge wurden von Itard als „Spiel-Perioden" betrachtet und hatten keine Relevanz zu dem, was er den Jungen lehrte. Was Itard in den Ausflügen sah, war eine Methode Erleichterung für Victoire zu schaffen. Erleichterung, da er während dieser Ausflüge nicht dem Streß der pädagogischen Situationen ausgesetzt war.) Nicht, daß Christina nicht auch vor Goodes Erscheinen in der Institution mit dem Personal gespielt hat. Es fragt sich nur, wie die normal Hörenden und Sehenden ihre Handlungen interpretieren, kategorisieren und welche Konsequenzen diese Interpretationen für die Formulierung Christinas, als soziales Objekt haben.

Christina erweitert schnell ihr Repertoire an Aktivitäten, das „körperliche Austauschformen" und „Wahrnehmungsspiele" beinhaltet. Diese Tätigkeiten bestehen aus grobmotorischer Körperinteraktion: Schaukeln, springen, rennen, grundsätzlich langzeitige, sich wiederholende Wahrnehmungsspiele. Die Wahrnehmungstätigkeiten beinhalten eine Beteiligung, die darauf ausgerichtet ist, Befriedigung, Freude und Zufriedenheit zu erlangen.

Ich möchte nun weitere Tätigkeiten näher schildern:

Außer Goode mit ihrer Aufnahmefähigkeit von Licht spielen zu lassen (Lid tippen), singt und springt Chris. Auf einer „Klang-Palette" von ganz tief bis sehr hoch variiert sie die Töne. Über diese Variationsmöglichkeiten freut sie sich sichtlich. Auch läßt sie Goode seine Finger im rhythmischen Wechsel in ihre Ohren stecken, um den Ton zu „stoppen".

Als Goode beginnt mit Chris bezüglich ihrer Beschäftigungen zu kooperieren, gipfeln diese oft in Begeisterungsstürmen. Das Resultat dieser Momente ist, daß sie die Kontrolle über ihre Ausscheidungsorgane verliert.

Musik ist ein Weg, um in Christinas Welt vorzudringen. Chris ist eine musikalische Person, die es genießt Musik zu hören und auch zu machen. Nachdem Goode sie vorsichtig während der Musikstunden beobachtet, bringt er ihr eine elektrische Spielzeugorgel mit und nimmt folgendes zur Notiz: Chris plaziert ihre linke Hand auf den Tasten der Orgel, durch die die Töne der tieferen Frequenzen hervorzubringen sind. Dann beschäftigt sie sich mit zwei, in Verbindung zueinander stehenden Körperbewegungen. Eine davon ist die rhythmische Bewegung von Kopf und Körper, indessen sie abwechselnd ihr rechtes, „gutes" Ohr näher an und wieder weiter weg von der Orgel positioniert. Das andere Zusammenspiel von Bewegungen besteht aus einem Zurücklehnen des Kopfes, um das Deckenlicht vor sich zu haben, sowie dem Schwenken des Kopfes von vorne nach hinten und von Seite zu Seite, wozu sie ihre Lippen vibrieren läßt. Auf Goode wirkt dieses, als wolle sie einen Motor (nur ohne Ton) nachahmen. Beide Arten von Bewegungen besitzen offensichtlich eine rhythmische Qualität. Goode hört auf Christina Dinge beizubringen und läßt sich von ihr (be-)lehren.

Goode entschließt sich Christinas Handlungen „nachzuspielen". Er verwendet Ohrenstöpsel aus Wachs und plaziert diese so, daß sein rechtes Ohr sein „gutes" ist, so, wie es bei Chris der Fall ist. Auch bastelt er sich eine Vorrichtung für die Augen, durch die er auf der linken Seite etwas simulieren kann, daß dem vernarbten Gewebe Christinas gleichkommt. Dann beginnt er das Verhalten, daß sie an der Orgel zeigt zu imitieren. Auf diese Art lernt er eine Reihe interessanter Sachen. In beiden Bewegungsabläufen ergibt die Bewegung des Kopfes die Qualität eines Beats wieder. Auf diese Art hat Christina ein Form zu hören entwickelt.

Hat Chris ihr Hörgerät im Ohr, so sieht er sie manchmal beide Bewegungsabläufe gleichzeitig vollziehen. Daraus zieht Goode den Schluß, daß sie so etwas, wie ein Feedback von bzw. über ihr(em) Hörgerät bekommt. Bei Verwendung von verstärkter Musik ist Chris in der Lage dazu akurat den Takt zu halten. Das, über die Schultern, Schwingen des Kopfes ist für Goode schwer nachzuempfinden, da seine Muskulatur nicht so geschmeidig und locker ist wie die, von Chris. Diese Bewegung scheint nicht nur für den Takt von Wichtigkeit zu sein, sondern aus ihr ergibt sich eine Art „Light-Show". Diese entsteht durch den leichten Lichteinfall, den Christina beim Zurücklehnen des Kopfes durch ihr rechtes Auge empfängt.

Chris bereichert ihre Wahrnehmung auf diese Weise mit einem Reichtum, den ihr ihre Augen und Ohren nicht geben können.

Goode und Christina arbeiten auch mit einer Rassel, die sich als alternative Kommunikationsform herausstellt. Vor dem Gebrauch überprüft Chris die Rassel mit ihrem Mund und ihrem rechten Auge. Sie ist begeistert von der andauernden Präsenz und den vielfältigen Möglichkeiten, die eine Rassel bietet. Chris weiß nicht, wie man eine Rassel benutzt. Dieses Unwissen qualifiziert sie auf gewisse Weise. Es qualifiziert sie zu einer Angehörigen der Kategorie von Personen die, weil sie nicht wissen wie sie eine Rassel benutzen können, eine Menge neuer Dinge damit anstellen, die für Menschen, die um dessen Gebrauch wissen unzugänglich sind.

Der Mund ist das Organ mit dem Christina erfolgreich Tätigkeiten der Wahrnehmung organisieren kann. Diese Form von Wahrnehmung der Dinge bleibt Goode verschlossen. Er kann sie nicht übernehmen, denn es überschreitet jede kulturelle und gesellschaftliche Vorstellung Fenster oder Fußböden mit der Zunge zu erforschen. Goode fürchtet sich vor den Reaktionen, die erfolgen würden, wenn er dieses täte. Er bemerkt, daß sich, betrefflich Christinas Verhalten, zwei Kategorien bilden. Die eine Kategorie ist er selbst, der Christinas Verhalten als rational betrachtet. Dem gegenüber steht die Kategorie „Personal", die ihr Verhalten als „fehlerhaft" empfindet.

In ihren Interaktionen ist Chris grundsätzlich „Ich-bezogen" und kennt keine moralischen Werte. Oft reibt sie ihre Genitalien an Goode oder gibt ihm Zeichen, die ein Verlangen nach „schwingenden" bzw. „schaukelnden" Tätigkeiten darstellt. Es scheint sie nicht zu kümmern, ob er Freude an diesen Handlungen hat oder nicht. Die Interaktionen sind strukturell so ausgerichtet, daß Chris soviel „gute Gefühle" daraus ziehen kann, wie es ihr nur möglich ist. Welche Art von Gefühlen sie tatsächlich empfindet ist nicht wirklich nachzuempfinden. Sie lassen sich nur vermuten.

Während der Interaktionen nimmt sie hauptsächlich eine kraftlose, frustrierte Position ein und scheint nicht die „kognitive Ausstattung" (Konzepte, Sprache, Logik) zu haben durch die sie ihr Erleben rationalisieren bzw. verstehen kann. Goode beschreibt Chris als jemanden, der nicht die körperlichen Fähigkeit hat etwas in Angriff zu nehmen oder sich selbst vor einem Angriff zu schützen bzw. zu verteidigen. Das „Herumkommandieren" des Personals der Institution gegenüber der, diese bewohnenden, Kinder ist ein charakteristisches Merkmal für den Institutionsalltag.

Sobald Christina eine Interaktion einleitet, hat diese den Zweck, ihr soviel Lustgewinn wie möglich zu verschaffen. Dieses Verhaltensmuster wird eigentlich dem Begriff „infantil" zugesprochen. Goode bezeichnet Chris jedoch als keinesfalls infantil. Das Mädchen ist neun Jahre alt und somit alt genug, um einige Ansprüche entwickelt zu haben, die ihren Lustgewinn betreffen. Was die Grenzen des Institutionsalltags betrifft, so kooperiert Goode mit Christina bezüglich des Erreichens ihrer Ziele. Es ist ihm sehr wichtig was sie will, nicht, was die Institution will. Ihr gebührt seine volle Unterstützung. Obgleich es in Christinas Leben eine Reihe netter, sympathischer Obhüter und Lehrer gibt, beugt die Definition der Institution ihrer Beziehung zu Chris einer Kooperation vor - ihre Definition ermöglicht keine Kooperation.

Was Chris von anderen sozialen Wesen unterscheidet sind ihre „inneren Widersprüche". Dies entdeckt Goode bei der Interaktion mit ihr (S. 39). Er betrachtet vorsichtig die eigene Investition in die Art, in der er sie sozial konstruiert. Die inneren Widersprüche, durch die Christina zum Aufbau von Beziehungen zu anderen angetrieben wird, unterscheidet sie von anderen sozialen Wesen. Chris ist, wie alle anderen Menschen auch, eine Sammlung von einheitlichen Widersprüchen, eingeschlossen der Widersprüche ihrer Taub-Blindheit.

Ihre Blind- und Taubheit bildet sowohl ihren größten Gewinn, als auch ihr größtes Defizit. Manchmal verschaffen sie ihr, mit unglaublicher Intensität, einen Genuß an den einfachsten Dingen. Zu anderen Zeiten sind sie wiederum der Ursprung des Ärgers, der gleichermaßen intensiv ist. Gewissermaßen paradox ist Christinas Taub-Blindheit und Wortlosigkeit. Goode bezeichnet sie als eine Heldin des HIER und JETZT.

Jahre später, als David Goode Chris besucht, hat sie, nicht zu seiner Verwunderung, viele der Kompetenzen, die sie in der Zeit, in der sie mit ihm gearbeitet hatte erwarb wieder verloren.

Viele ihrer Eigenarten erinnern ihn jedoch noch immer an dieselbe Person, die er bereits zwanzig Jahre zuvor kennengelernt hatte.



Goodes „Familienprojekt"

Goode beginnt ein Projekt in dem er mit einem, an dem Rubella-Syndrom erkrankten, Kind arbeitet, daß in seinem „normalen", familiären Umfeld lebt. An natürlichen Beobachtungen von Familien mit Rubella-Kindern mangelt es. Diesem Mangel Abhilfe zu schaffen erhofft sich Goode durch seine Forschungsarbeit. Er erlaubt es sich, die Rolle der Familie mit der der staatlichen Institution zu vergleichen.

Innerhalb der Forschungsarbeit bzw. -literatur über Familien mit entwicklungsgestörten Kindern und/ oder Angehörigen besteht ein absoluter Mangel. In der professionellen Forschungsliteratur kann Goode nicht eine Abhandlung über Familien dieser Art finden.

Dieses hat sich, wider der Erwartungen, bis heute nicht großartig geändert. Findet man Bücher dieser Art, so sind sie häufig unpräzise, esoterisch und einfach als seltsam zu bezeichnen. Ein roter Faden, der sich durch Goodes Beobachtungen zieht ist die Feststellung, daß die Sozialwissenschaften oftmals als elegante, komplexe und eindrucksvolle Analysen von Ereignissen in der alltäglichen Welt produziert werden. Diese Analysen haben jedoch weitaus mehr mit Theorien und Büchern zu tun, als mit dem aktuellen Ausdruck von Erfahrungen, die das alltägliche Leben schreibt.

Gute klinische Methoden sollten mit peinlich genauen Beobachtungen von Verhaltensweisen und Situationen (wie diese von dem „Patienten" bzw. „Kunden" gesehen werden) beginnen. Im Hinblick auf die gängigen Methoden des Studiums von sozialen Gruppen, Familien, etc., argumentiert die Ethnomethodologie, daß diese keine versteckten Realitäten erobern. Die Realität kann, laut Ethnomethodologie, nur erkannt werden, wenn sie wissenschaftlich behandelt wird. Aus ethnomethodologischer Sicht bilden diese Methoden eine „verwissenschaftlichte Version" der Welt, die reich an Phänomenen des Interesses derer ist, die sie anwenden.



Die Familie Smith

Goode begleitet die Familie Smith über die Zeitspanne von einem Jahr hinweg. Ein Jahr, in dem er sich massenhaft handschriftlich notiert und unzählige Seiten mit seinen Beobachtungen und Analysen füllt, um einen Einblick in die Welt einer Familie mit einem mehrfachbehinderten Kind zu bekommen und diesen wiederum auch vermitteln zu können.

Mit der Hilfe von Christinas Mutter trifft Goode auf die Familie Smith. Sie empfiehlt die Smiths als eine Familie, die sich beispielhaft an ihre heranwachsende Tochter angepaßt hat. In vielerlei Hinsicht empfindet Goode ihre Einschätzung später als richtig.

Familie Smith hat eine Tochter namens Bianca, die, wie Christina taub, blind und ohne Sprache ist. Die Smiths sind eine vierköpfige Mittelklassefamilie, die in einer vorstädtischen, kalifornischen Gemeinschaft lebt. Joe, der Vater, arbeitet sechs Tage die Woche als Maschinenbauer, um die Familie finanziell zu unterstützen. Die Familie hat ein eigenes Haus, zwei Autos, ein Motorrad und sie verbringen ihre Ferien gelegentlich in der Wüste. „Die Frau im Haus", Barbara, arbeitet von zu Hause aus als Vermittlerin von Tagespflegemüttern bzw. -familien für Kinder aus dem Ort. Vor der Hochzeit mit Joe hat sie als Sekretärin gearbeitet. Seit der Geburt ihrer ersten Tochter, Bianca, hat sie die primäre Verantwortung für die Pflege des Haushalts und der Kinder. Bianca wird mit dem Rubella-Syndrom geboren. Zur Zeit der Nachforschung Goodes ist sie im Alter von 13 Jahren, taub, blind, zurückgeblieben und ohne Sprache. Weiterhin ist es ihr, aufgrund einer Lähmung des Gehirns, nicht möglich zu laufen oder „normal" nach Gegenständen zu greifen. Ausgenommen der Lähmung des Gehirns ist Bianca in vielerlei Hinsicht mit Christina zu vergleichen. Bianca trägt eine starke Brille und ist beidseitig auf Hörgeräte angewiesen. Sie ist nur sehr begrenzt fähig sich selbst zu helfen. Sie muß gefüttert, angekleidet und auf die Toilette gebracht werden. Ihr scheint es an den elementarsten, sozialen Fähigkeiten zu mangeln. Bianca zieht es vor sich in ihrer eigen Welt zu befinden. (self-stimulate, rock off). Ihre sechs Jahre jüngere Schwester, Tanya, wird Goode als die „jüngere, ältere Schwester" vorgestellt. Tanya ist sieben Jahre alt und weitaus reifer als andere Kinder in ihrem Alter. Sie ist Goode gegenüber sehr kooperativ und hilfsbereit eingestellt.

Goodes erster Eindruck von Bianca ist, daß es sich bei ihr nicht gerade um ein schönes Kind handelt. Den medizinischen Hilfsmitteln, auf die sie angewiesen ist, kommt hinzu, daß sie einen mißgebildeten Körper (scoliosis) hat. Ihre Zähne und Haare wachsen ungleichmäßig und/ oder befinden sich in unregelmäßiger Anordnung.

Von den humanen Fähigkeiten her betrachtet ist Bianca ein „gering funktionierendes", mehrfachbehindertes Kind mit schlechten, kognitiven, sozialen und medizinischen Aussichten.



Goodes Vorgehensweise

Nachdem Goode telefonisch den Kontakt zu der Familie Smith aufgenommen hat, besucht er sie, um ihnen mehr über sich und seine Forschungsstudien zu erzählen. Die Smiths zeigen Interesse und Goode beginnt sie, von diesem Zeitpunkt an zweimal pro Woche, zu besuchen.

Schon innerhalb weniger Monate gelingt es Goode eine gute Verbindung zu ihnen aufzubauen.

Dies ist, seiner Aussage nach, nicht schwer, da die Familie in einer, seiner Form der Interaktion sehr ähnlichen, Art miteinander umgeht. Goode erhält auch die Erlaubnis Bianca innerhalb des Schulprogramms „special education" zu besuchen und zu beobachten. Die folgenden neun Monate beobachtet er Bianca zu Hause, in der Schule und auch in der „Gemeinschaft" (z.B. bei Mc Donald' s oder beim Einkaufen). Er verbringt ungefähr 200 Std. bei ihr daheim und in der Schule. Goode nimmt die Stellung des teilnehmenden Beobachters ein und macht sich keinerlei Notizen während der Beobachtungen. Er hat allerdings einen Kassettenrecorder bei sich und nimmt so einige Erfahrungen aus den unterschiedlichen Teilbereichen auf. Dabei ist zu jeder Zeit zu erwarten, daß der Recorder zu schaden kommt und/ oder lahm gelegt wird. Die, auf diese Weise erworbenen, Aufnahmen nutzt Goode als Audio-Daten, die er später (nach präzisem Anhören des Tonträgermaterials) in schriftliche Notizen umformt. Außerdem notiert er sich jeden Abend die täglichen Ereignisse, die er ohnehin in seiner Erinnerung hat.



Kommunikationsschwierigkeiten

Es existiert ein Konflikt zwischen der professionellen, wissenschaftlichen Version der Familienkommunikation und der, der natürlich erworbenen Kommunikation der Familienmitglieder im Hause Smith. Der Konflikt besteht bereits vor Goodes Eintritt in die Gesamtsituation. Goode bemerkt, daß er in die Rolle der Liason zwischen SCHULE und ZUHAUSE eingespannt wird. Er wird zu einem Schlichter zwischen den beiden Fronten. Dadurch, daß Goode beide Umgebungen für seine Beobachtungen gewählt hat, hat er sich selbst unbeabsichtigt an die Front des Schlachtfeldes befördert. Vor Goodes Eintritt in die Situation tauschen Biancas Lehrkörper Informationen aus, indem sie Notizen in ein kleines Buch schreiben, welches Bianca mit zur Schule und zurück nach Hause nimmt. Es entwickeln sich Unstimmigkeiten und die Notizen werden folglich weniger. Goodes Eintritt in die Situation vermittelt nun den perfekten, verständnisvollen, vernünftigen, sympathischen und vor allem neutralen Beobachter. Ihm gegenüber können beide Seiten die Angemessenheit ihrer Position zum Ausdruck bringen, als auch indirekt ihre Beschwerden gegenüber der anderen Seite anmerken. Was Goode berichtet zu entdecken, ist eine Geschichte von aufeinander aufgebauten, ernsthaften Konflikten, die durch die unterschiedlichen Einschätzungen von Bianca entstehen. Es gibt die Einschätzung der Eltern und die der professionellen Fachkräfte.

Ähnlich Goodes Beobachtungen von Christina innerhalb der Institution, ist Bianca sozial konstruiert und es werden Anrechte bzw. Forderungen von den Familienmitgliedern und dem schulischen Personal gestellt. Beide Parteien sind, bis ins Detail, unterschiedlicher Meinungen bezüglich Biancas Fähigkeiten, sowie ihrer angemessenen Behandlung (medizinisch und persönlich). Biancas Konstruktionen, beurteilt Goode, sind so gegensätzlich, daß es schockierend ist. Er bemerkt, daß diese Tatsache eine alltägliche Erscheinung ist, die zu „den Kindern" zu gehören scheint. Eltern, die mit mehrfachbehinderten Kindern leben, stimmen häufig nicht mit der Einschätzung der professionellen Seite überein. Viele dieser Eltern entdecken etwas, daß Goode folgendermaßen beschreibt: „Systematische, klinische Unterbewertung der Kompetenzen im Familienkontext."

Viele Jahre der Arbeit in diesem Bereich, sowie die Beobachtungen einiger Familien mit behinderten Kindern, bringen David Goode zu dem Schluß, daß ein Teil der Widerwilligkeit von professioneller Seite notwendig ist, um die, sich im Konflikt befindende, elterliche Aussage der „häuslichen Kompetenzen", die das Kind daheim aufweist, akzeptieren zu können. Vorerst wird die elterliche Wahrnehmung zumeist als ungenau und/ oder falsch hingestellt. Die professionelle Seite versagt darin, die erfahrungsgemäßen Details des alltäglichen Familienlebens mit einem Kind wie Bianca zu verstehen.

Von Seiten der Schule werden stichprobenartige Hausbesuche vorgenommen, um herauszufinden, welche Anforderungen die Mutter Bianca gegenüber stellt. Diese Hausbesuche finden zwei- bis dreimal pro Schuljahr statt, wobei kritisch anzumerken ist, daß ein solcher Besuch eine Stunde andauert. Es steht nicht zur Diskussion, ob das Familienleben überhaupt, geschweige denn dessen Details, in so kurzer Zeit bekannt und beurteilt werden kann.

Das klinische und das für die Ausbildung zuständige Personal der Schule des Mädchens verwendet sein „objektives" Wissen über das Kind als eine Art Standardverurteilung

gegenüber der elterlichen Aussagen. Das Personal nutzt die Autorität und Objektivität der Wissenschaft als Rückendeckung. Es verstößt gegen die Grundlage der wissenschaftlichen und professionellen Arbeit, daß die Figur eines „verblendeten bzw. irregeführten Elternteils" auftaucht. Die elterliche Vertrautheit mit dem Kind wird nicht als vertrauenswürdige Basis für eine Aussage und/ oder einen Beweis betrachtet.

Die Fähigkeit des Kindes „zu funktionieren" (auch gegenüber bzw. in Interaktion mit „Unbekannten") ist Teil des professionellen Interesses. Ob sie gut in der heimischen Umgebung „funktionieren" scheint uninteressant. Die Festsetzung der professionellen Sprache ignoriert die komplette Praxis der Situationskommunikation innerhalb der Familie und formt ihre Erzählung in symptomatische Ausdrucksformen emotionaler Krankheit, die auf ihre Rolle als Eltern gerichtet ist, um. (S. 57) Die ethnomethodologischen Beobachtungen in Bezug auf minderwertige Untersuchungen (epistemological) vieler sogenannter „wissenschaftlicher" Studien sind auch hier relevant. Aus Goodes Sicht versagt das fachmännische Personal darin, zu realisieren, wie wenig wir wirklich von menschlicher Kommunikation verstehen. Sie vertrauen viel zu sehr den Büchern, die sich mit diesem Thema beschäftigen.



Zur Kommunikation mit Bianca

Für die schulischen Fachkräfte, als auch für Außenstehende, scheint Bianca ein Kind zu sein, dem es an jeglicher Kompetenz zur Kommunikation fehlt. In Testsituationen verfällt sie in ein Verhalten (autophotic play), das sich dadurch auszeichnet, daß sie sich schüttelt bzw. hin- und herbewegt. Dieses Verhalten ähnelt dem Autismus und beinhaltet eine taktische Selbst-Stimulation. Während Bianca sich in ihrer Klasse befindet, scheint sie grundsätzlich nichts von ihrer Umgebung, oder der Tätigkeiten der Lehrer und Therapeuten zu bemerken. In der Schule wird sie als jemand beschrieben, der keine Sprache hat und kaum kommunikatives Verhalten, außer der Fähigkeit ihre emotionalen Vorlieben und Abneigungen zu zeigen, besitzt. Nachdem Goode Bianca einige Male in der Umgebung der Klasse beobachtet hat und die Beschreibung ihrer Person vom Personal vernimmt, wird ihm deutlich klar, woraus sie die Basis der niedrigen Bewertung ihrer Kompetenzen entnehmen. Der Beziehung, die sie bisher zu Bianca geführt hatten, sowie ihrer Verhaltensweisen innerhalb des Klassenraumes, entnahmen sie, daß sie das Mädchen sehr gut kannten und sie, ohne Vorurteile, richtig einschätzen konnten. Durch die Beobachtungen Biancas innerhalb der Schule ist Goode sich sicher, daß die Fachkräfte sie, auf das organisierte Leben der Institution bezogen, richtig einschätzten.

Die Fachkräfte kennen und verstehen Bianca, aber sie versagen darin zu erkennen, daß sie eine sehr familiäre Person ist. In der Beziehung des schulischen Personals wird bzw. werden ihr ein Leben, eine Identitä,t und bestimmte Attribute zugeschrieben. „Die Schule" kennt Bianca so, wie sie in der Organisation einer „special-education-school" existiert.

Dieses Verhalten gilt auch für Biancas Eltern. Beide Parteien versagen darin die konkreten, sozial-organisatorischen Unterschiede einzuschätzen, die zwischen der Schule und „dem Zuhause" bestehen. Das Anliegen der Schule ist es Bianca dazu zu bringen, eine Kommunikationsform zu entwickeln, die sie mit „jedermann" gleichstellt - die ihr sozusagen „gesellschaftliche Anerkennung" gibt. Das Anliegen der Familie hingegen erklärt, weshalb zwei Welten aufeinanderprallen. Die Smiths kommunizieren mit Bianca, weil sie ein gleichwertiges Mitglied der Familie ist, die Schule tut dieses nicht, da sie das Mädchen nicht als gleichwertig betrachtet. Das eigentliche Problem der beiden Parteien ist, wie leicht festzustellen ist, ihre unterschiedliche Art Werte und Prioritäten zu setzen.

Biancas Eltern gehen mit allem, was die Kommunikation mit ihrer „älteren, jüngeren Tochter" betrifft, natürlich um. Dieses wird an folgendem Beispiel aus dem Familienalltag deutlich, daß Goode miterlebt: Nachdem Bianca (im Wohnzimmer am Tisch sitzend) mit dem Essen fertig ist wirft sie ruckartig, als auch energisch, den Kopf zur Seite. Diese Bewegung wiederholt sie. Diese Tätigkeit ist nicht selbstzerstörerisch, grenzt jedoch an einer Form von Gewalttätigkeit, die gegen sich selbst gerichtet ist. Auf ihr Verhalten hin befragt Goode Joe, ob er wisse, was das Mädchen damit ausdrücken wolle. Joe verneint dieses und erwidert, daß sie dieses Verhalten erst kürzlich neu eingebracht habe. Goode, Joe und Barbara halten daraufhin ein ausführliches Gespräch darüber, wie es aus Biancas Sicht der Dinge zu den Tätigkeiten kommen könnte. Sie sammeln einige, alternative Erklärungen diesbezüglich. Vielleicht will sie Ärger, Frustration oder Schmerz ausdrücken. Letztendlich werden sie sich darüber einig, daß das erst kürzliche Erscheinen dieser Verhaltensweise eine Interpretation erschwert. Joe kommentiert das Verhalten abschließend folgendermaßen: „Ich weiß es jetzt noch nicht, aber wir werden es herausfinden, wenn sie es beibehalten wird."

Barbara vermutet in Zeiten, in denen eine Kommunikation mit Bianca schwer möglich ist, daß es sich um „Spiele" handelt. Goode unterstreicht, daß beide Aussagen auf die klare Wahrnehmung der außergewöhnlichen, und manchmal problematischen, Charakteristik der elterlichen Kommunikation mit Bianca verweisen. Beide Elternteile verleugnen jedoch nicht, daß Verständigungsprobleme bestehen.

Zuhause werden Biancas Tätigkeiten durch das Hintergrundwissen und der Praxis der Familie respektiert. Es finden „natürliche Experimente" statt, die zum alltäglichen Leben mit Bianca gehören. Sie dienen einer besseren Kommunikation mit ihr und werden nie von der wissenschaftlichen Seite betrachtet: Stemmt Bianca beispielsweise ihre Füße gegen den Eßtisch und beendet dieses Verhalten, nachdem ihr ein Elternteil ein Stück Obst gibt, so wird diese Ausdrucksform folgendermaßen interpretiert: „Ich möchte Obst."

Verweigert sie das Stück Obst, aber läßt sich ohne Einwände hochheben und zum Sofa bringen, so wird daraus: „Bringe mich zum Sofa."

Aus wissenschaftlicher Perspektive sind diese Kommunikationsformen nicht gerade einwandfrei, aber aus familiärem Blickwinkel sind sie optimal. Goode stellt fest, daß die Familienmitglieder in der Lage sind, die Kommunikationsgrenzen innerhalb der Beziehung zu Bianca, realistisch zu betrachten. Daß ihre Kommunikationsstrategien effektiv sind, zeigen sie dennoch.

Wesentlich für den ethnomethodologischen Blick auf die soziale Realität ist die Vorstellung, daß soziale Wahrheiten und soziale Ordnungen des alltäglichen Lebens nicht als grundsätzliche Normen und Sozialstrukturen existieren.



Gewohnheiten

Am Beispiel Christinas und anderer Bewohner der staatlichen Einrichtung wird die „Institutionalisierung" durch Routine deutlich. Die Bewohner empfinden Traurigkeit bei Unterbrechung der Routine, die sie zu genießen scheinen.

Bianca und Barbara haben ebenfalls viele Gewohnheiten. Damit Goode die Möglichkeit bekommt diese zu verstehen, führen sie ihn gewissermaßen in ihre Routine ein. Nach einigen Beobachtungen findet Goode heraus, daß eine Art Routineordnung innerhalb der Familie besteht. Vor dem Essen ist es z.B. üblich, daß Bianca zur Toilette geht. Es existieren eine Reihe Ordnungen bezüglich der persönlichen Erholung, der Mahlzeiten und der „Badezimmer-Besuche". Nachdem Goode Barbara einige Male beim Füttern von Bianca beobachtet hat, bietet er sich an diese Aufgabe bei seinem nächsten Besuch zu übernehmen. Als er Bianca bei seinem nächsten Besuch füttert, bewährt er sich gut, da er ihre Essenspraktiken zuvor genau beobachtet hat. Er versagt jedoch kläglich, als er ihr beim Trinken helfen will. Mit seiner Technik trifft er den falschen Winkel und bekleckert sich und Bianca von oben bis unten. Als er sie daraufhin vom Trinken abhalten will, wird sie sehr ungeduldig mit ihm. Sie umfaßt seine Hand und das Trinkgefäß und bringt beides in genau die Stellung, in der sie trinken kann ohne, daß die Flüssigkeit ihren Mund verfehlt. Bianca zeigt Goode die Gewohnheiten ihrer Mahlzeiten mit ungeheurer Präzision. Die Smiths berichten ihm, daß das Mädchen ein Mensch ist, der exakt verfolgt, ob seinen Gewohnheiten Tag für Tag nachgegangen wird. Geht etwas nicht wie üblich von statten, so ist sie ganz und gar nicht damit einverstanden. Stehen ihre Beinschienen abends in der richtigen Ecke, bekommt sie ihre Medikamente zur richtigen Zeit - all das ist von großer Wichtigkeit für Biancas routinierten Tagesablauf. Sie befürwortet keine Veränderungen. Treten sie dennoch ein, so kann sie dazu gebracht werden diese zu akzeptieren. Um ihre Akzeptanz zu erlangen, wird man allerdings eine gewisse Dauer an Zeit aufbringen müssen. Daß Bianca Routine versteht und, daß sie anderen Menschen diese beibringen kann, sofern sie sie lassen, fühlen Goode und ihre Eltern. Viele Gesten, die zu dem routinierten Alltag gehören, kann Goode nicht allein interpretieren. Er läßt sich ihre Relevanz bis in das kleinste Detail von Biancas Eltern erklären. Der Gebrauch des Trinkgefäßes ist nur ein kleiner Teil der umfangreichen Gewohnheit rund um das Thema „Milch trinken". Aufgrund ihrer großen Vertrautheit haben Bianca und ihre Mutter ein großes Gefüge an Gewohnheiten füreinander aufgebaut.

Bianca verfügt über wenig Möglichkeiten sich auszudrücken. Sie kann emotionale Gegensätze wie z.B. fröhlich/ traurig, verärgert/ zufrieden, sicher/ unsicher ausdrücken. Weiterhin verfügt sie über eine begrenzte Kapazität Sprache durch Tätigkeiten zu nutzen. Sie zeigt beispielsweise, daß sie nach einem Sandwich verlangt, indem sie nach diesem greift. Als interessant zu beobachten bzw. zu interpretieren, hebt Goode folgendes hervor: Bei einem Abendessen zeigt Bianca eine nervöse Unruhe und wirkt sichtlich unzufrieden. Sie scheint traurig und verstimmt zu sein. Auf dieses Verhalten hin wendet sich Barbara Goode zu und erklärt ihm, daß das Mädchen nach seiner Milch verlangt. Goode fragt sie, woher sie das wisse. Barbara erklärt ihm, daß sie zu dieser Zeit gewöhnlich Milch bekommt und, daß sie (Barbara) es gerade vergessen hat.

Diese Formen der Kommunikation beginnt Goode „Routine-Zeichen" zu nennen. Der Grundstein für die Verständigung mit Bianca ist, den Prozeß ihrer Tätigkeiten als Ausdrucksform, zu verstehen. Trotz der Abwesenheit von Zeichensprache findet innerhalb der Familie eine Verständigung statt. Goode stellt fest, daß das Ausüben symbolischer Zeichensprache im Familienleben der Smiths unnötig und überflüssig wäre. Die Symbole würden nur zusammenfassen, was ohnehin schon bekannt ist. Hierbei steht nicht zur Debatte, daß die Zeichensprache für Biancas Kommunikationszwecke mit Menschen außerhalb der Familie nützlich wäre. Die Feststellung bezieht sich nur auf die Kommunikation innerhalb der Familie.



Emotionen - Teile der Kommunikation

Innerhalb der Familie existiert ein besonderes Wissen über die Emotionen der einzelnen Familienmitglieder und deren Verbindung mit speziellen Objekten, Orten oder Tätigkeiten.

Beispiel: Joe bewahrt im Schlafzimmer ein Gewehr und die dazugehörigen Patronen auf. Bianca weiß, daß dieses Objekt für sie strengstens verboten ist. Sie weiß ebenso, daß ihr Vater sehr verärgert wäre, wenn sie es dennoch anrühren würde. Eines Tages beobachtet Joe, wie Bianca aus dem Wohnzimmer huscht. Er weiß, daß sie gerade zornig über ihn ist und sagt: „Nun holt sie sich die Patronen."

Dieses Beispiel ist der Beweis dafür, daß die Familie das gemeinsame Wissen um ihre Emotionalität, Vorlieben und Abneigungen, als Teil ihrer Kommunikation, miteinander teilt.



Der Körper und seine Ausdrucksformen

Im folgenden Text möchte ich kurz Goodes Betrachtungsweise gegenüber körperlicher Kommunikation darbieten.

Das moderne Verständnis körperlicher Ausdrucksweisen betont ihren sozial konstruierten Inhalt bzw. Charakter. Goode geht davon aus, daß es möglich ist körperliche Tätigkeiten als Ausdrucksformen des menschlichen Bewußtseins und als Beabsichtigung der Kommunikation zu verstehen. Er betrachtet weiterhin, daß der Körper selbst gewisse stumme, allgemeine Verständigungsstrategien der menschlichen Welt mit sich bringt, woraus zu verstehen ist, wie diese Ausdrucksformen und Beziehungen sozial konstruiert sind und welcher Sinn ihnen in der alltäglichen Welt von den Menschen gegeben wird. Die stummen Ausdrucksformen und die Mitgliedschaft in der menschlichen Umwelt, die der Körper dem Menschen zugesteht,

gehören der menschlichen Welt an und sind somit Teile des Lexikons der körperlichen Ausdrucksformen. Die Welt des alltäglichen Lebens ist die „Szene, als auch das Objekt unserer Aktionen und Interaktionen". (Schütz - Zitat: David Goode/ A World Without Words: S. 108)



Konversation & Körper

Der mühevolle Charakter der körperlichen Kommunikation zwischen Goode und Chris, sowie Barbara und Bianca, läßt sich am ehesten durch das Wort „arbeiten" beschreiben.

Eine beispielhafte Geste der körperlichen Kommunikation zwischen Goode und Christina besteht aus folgendem Verhalten:

Goode grüßt Chris, indem er seine Hand auf ihr Gesicht legt. Daraufhin gibt sie ihm ein Zeichen sie hochzuheben. Sobald dieses geschehen ist, umschlingt Chris seine Taille mit ihren Beinen und hüpft auf und ab. Damit zeigt sie ihm, daß sie danach verlangt von ihm in der Luft „hin- und hergeworfen" zu werden. Dieses tut Goode, bis seine Arme schwach werden, was Christina wiederum spürt. Oft legt sie auch ihr rechtes, „gutes" Ohr an seine Lippen und fordert ihn somit zum reden oder singen auf, während er sie weiter hin- und herbewegt.

Durch diese routinierte, aber lebendige Begrüßungsform entsteht eine körperliche

Konversation - eine Kommunikation mit körperlichen Zeichen, die auf eine bestimmte Art an eine sprachliche Konversation erinnert. (Natürlich ist eine „normal betriebene", verbale Konversation auch eine körperliche Konversation.) Goode bezeugt durch seine Beschreibungen, daß es eine Konversation des Körpers gibt, die von keiner formellen Sprache Gebrauch macht und doch symbolisch ist.



Institutionalisierte Tätigkeiten

Manche Tätigkeiten der institutionalisierten Kinder verlieren ihre pathologische Qualität.

Christina drückt den Rhythmus ihres alltäglichen Lebens in der Institution mit ihrem „Schaukeln" aus. Bianca gebraucht keine Symbole, da ihre Beteiligung an den kommunikativen Aktivitäten innerhalb der Familie durch andere Formen der Kommunikation das pragmatische Bedürfnis nach Sprache erfüllt. Laut Goodes Beurteilung sind beide Kinder im gewissen Sinne institutionalisiert. Beide Mädchen, Christina, als auch Bianca, sind an eine bestimmte Umgebung angepaßt. Christina ist an die Umgebung der Institution, Bianca an die Umgebung der „Institution Familie" angepaßt.



Methodische Reflektionen

Im folgenden Abschnitt werde ich nun auf Goodes Anmerkungen betreffend seines Buches „A World Without Words" eingehen. Ein Weg sein Buch zu lesen, beschreibt David Goode, ist die Möglichkeit es als Reflexion der Methode („Logik der Untersuchung": logic of inquiry) zu betrachten, die folgende Fragestellung fordert: Wie ist es für taub-blinde Kinder ohne Sprache und normal sehende und hörende Eltern mit Sprache möglich einander zu verstehen? (S. 114: A World Without Words/ David Goode)

Goode stellt sein Buch als ein Werk dar, daß Wege der Verständigung mit Kindern, die am Rubella-Syndrom erkrankt sind, aufzeigt. Auch bezeichnet er es als ein Buch, daß „unsere" sozialen Beziehungen zu diesen Kindern zeigt. Es zeigt die sozialen Beziehungen die, eingeschlossen der Übernahme der alltäglichen, natürlichen Einstellung ihnen gegenüber, phänomenologisch sind.

Goodes Studien und sein Buch sind, wie er schreibt, daß, was Schütz als „das Paradoxe des phänomenologischen Angebots bzw. Vorschlags" nennt. Dieser Satz verweist auf „die weltlichen (im Sinne von begrenzten) Konzepte der Welt und auf die Sprache", welche mit der Beseitigung der kommunizierenden Phänomenologen allein dasteht". (S. 115: A World Without Words/ David Goode)

Goode zitiert Schütz, um zu begründen, weshalb alle phänomenologischen Berichte unangemessen und/ oder ungenügend sind: „Sie sind aufgrund des Versuches unangemessen, einer Bedeutung, die nicht wörtlich ist, eine weltliche Ausdrucksform zu geben und dieser Schwierigkeit kann nicht mit einer künstlichen Sprache begegnet werden." (Sinngemäß übersetztes Zitat: S. 115, A World Without Words/ David Goode). Diese Feststellung beinhaltet die wesentliche, unlösbare Streitfrage, die sich Goode in der anfänglichen Arbeit mit Christina stellt. Abschließend entscheidet er sich endgültig dafür, daß es keine wirklich wahre Antwort auf diesen Aspekt der Methode gibt.



Schlußwort

David Goode beschäftigt sich mit Fragen, auf die es keine vorgefaßten, hypothetischen Antworten gibt, der sich die Ethnomethodologie annehmen könnte, da sich die Antworten erlauben aus den Phänomenen hervorzugehen, die beobachtet werden müssen.

Goode weist darauf hin, daß noch eine Menge Hingabe, als auch systematische und situationsbedingte Forschungen bezüglich der Kommunikationsformen erforderlich sein wird bzw. werden, um tatsächlich die Vielfalt des Körpers, sowie dessen Bedeutung für die Existenz im alltäglichen Leben dokumentieren zu können.

Mich persönlich hat das Buch bzw. die gesamte Arbeit Goodes zutiefst beeindruckt und ihm gebührt meine Hochachtung. Durch seine präzise Beschreibung der Arbeit mit den beiden Kindern hat er mich gewissermaßen am Geschehen teilhaben lassen. Gleichzeitig hat er mir jedoch das wissenschaftliche Schreiben durch diese erschwert. Die zum Teil sehr persönlichen, emotionalen Details führten dazu, daß ich mich selbst emotional sehr angesprochen fühlte und nach der richtigen Ausdrucksform suchen mußte. Jede Einzelheit seiner Arbeit ist ausschlaggebend für das Gesamtergebnis, wodurch es sich als sehr schwierig herausstellt die umfangreiche Materie zusammenzufassen und dennoch in allen ihren Bedeutsamkeiten zu schildern. Trotz dieser Schwierigkeiten - denen die Tatsache hinzu kommt, daß es sich um ein englischsprachiges, soziologisches Werk handelt - hoffe ich, daß es mir dennoch gelungen ist die Aspekte der Konstruktion der taub-blinden Welt aufzuzeigen, sowie diese Welt dem Leser nahezubringen.



Anschrift der Verfasserin: Katharina Rusch,

Blockener Str. 43,

28816 Stuhr

Tel: 0421/ 5635514



1.

1 Schriftliche Hausarbeit im Rahmen einer Lehrveranstaltung von Prof. Dr. W. Jantzen zu "Normalität und Ausgrenzung", Sommersemester 1999, Studiengang Behindertenpädagogik, Universität Bremen

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