Wolfgang Jantzen, Universität Bremen

Unterdrückung mit Samthandschuhen - Über paternalistische Gewaltausübung (in) der Behindertenpädagogik


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"Zwischen Stellvertretung und Gewalt einen Zusammenhang zu suggerieren, heißt humane Umgangsformen zu strapazieren. Dennoch denken wir, gibt es keine Positionen, die human an sich sind." (Sierck und Mürner 1995)

"Wir bewegen uns auf Universen zu, in denen das Herrschen immer mehr der technischen, rationalen Begründungen bedarf und in denen, da sich die Herrschenden bei der Ausübung ihrer Herrschaft immer nachdrücklicher auf die Vernunft und auf die Wissenschaft berufen, auch die Beherrschten sich immer mehr der Vernunft bedienen müssen, um sich gegen die Herrschaft zu wehren." (Bourdieu 1998, S. 157)


1. Gewalt (in) der Behindertenpädagogik

Die Verstrickung der Behindertenpädagogik in eine Geschichte, oder sofern Ihnen die postmoderne Variante lieber ist, in viele kleine Erzählungen von Gewalt ist offensichtlich. Um so erstaunlicher ist es, das es bisher erst zaghafte Ansätze einer Diskussion gibt, die systematisch danach fragt, inwiefern diese Gewalt nicht sekundär in das Fach diffundiert ist, sondern eine notwendige Bedingung seiner Herausbildung war und ist1. Ich formuliere dies ohne jeglichen moralisierenden oder anklägerischen Gestus, der mir zudem in keiner Weise zusteht, da ich Teil dieser Geschichte bin. Die Kürze der Zeit verbietet es mir, die biographische Seite dieser Thematik mit der analytischen Bestandsaufnahme zu verbinden.

Gewalt ein Fundamentum der Behindertenpädagogik? Lassen Sie mich zunächst einige wenige, skizzenhafte Illustrationen und Fragen anführen. Beginnen wir mit der historischen Ausgrenzung behinderter Menschen, die noch heute in den Großeinrichtungen weiter existiert. Der allgemeine Umgang des Faches mit dieser Problematik kann auf die kurze Formel gebracht werden, daß zwar totale Institutionen für entsetzlich erklärt werden, ansonsten aber die von Goffman (1972) aufgezeigten Mechanismen strikt mit dem Begriff der Großeinrichtung verbunden bleiben, und jedermann/frau außerhalb dieser mit ruhigem Gewissen sagen kann: "Wir sind nicht wie diese". Der gleiche Projektionsmechanismus wird im Unterschied von Integration und Sonderschule bemüht: "Wir grenzen nicht aus, wohl aber jene". Und empirische Untersuchungen, wie sie Reiser u.a. (1998) zur Situation der Integrationsbereitschaft in den Grundschulen aufgezeigt haben, werden mit Sicherheit von jenen, die Integration betreiben, wieder zur Projektionsfläche benutzt werden, wie schlimm doch die anderen sind: In diesem Falle jene GrundschullehrerInnen, die - nach der Interpretation der AutorInnen - in Verdrängung der eigenen Angst vor dem Versagen, ihre Ängste unsichtbar machen. Dies geschieht in begabungstheoretischen Konstruktionen (behinderte Kinder sind aufgrund ihrer Biologie nicht intelligent genug), milieutheoretischen Konstruktionen (wer aus einer schwierigeren Familie kommt, ist eine zu große Last für die Grundschule) oder aber in schulorganisatorischen Konstruktionen (unsere Bedingungen sind nicht dafür geeignet). "Bleibt jedoch das Problem des Leistungsversagens und das abweichenden Verhaltens aus der schulischen Kommunikation ausgeklammert oder wird sie in der Kommunikation zwischen den LehrerInnen nur in einer verfremdeten und abgewehrten Form verhandelt, wie z.B. in gegenseitigen Klagen, Bestätigung von Überforderung und gemeinsamen Suche nach Außenursachen, dann muß die in einen solchen Prozeß verstrickte LehrerIn individuell zu Entlastungsmechanismen greifen" (Reiser u.a. ebd. S. 158). Von derartigen Mechanismen sind Literatur und Praxis voll.
Natürlich ist die Ausgrenzung von SchülerInnen als "bildungsunfähig" oder "unerziehbar" seltener geworden: In Anbetracht eines Schulgesetzes, das wie in Bremen einen Antidiskrimierungsauftrag gegenüber Benachteiligten und Minderheiten beinhaltet, oder des Artikel 3.3.2 des Grundgesetzes würde es ja auch einen Verlust an symbolischem Kapital, d.h an sozialem Prestige bedeuten, offen zu solchen Positionen zu stehen. Einer der häufigsten Entlastungsmechanismen ist daher jener der Spaltung, von dem auch die Reisersche Untersuchung handelt: Nur ein Drittel aller leistungsgeminderten Schüler werden von GrundschullehrerInnen als Potential für die Lernhilfeschule definiert. Wer zwar wenig leistet, jedoch das pädagogische Selbstverständnis von LehrerInnen nicht durch sein eigenes oder das Verhalten seiner Familie in Frage stellt, der erlangt Bleiberecht. Dies aber ist der gleiche Mechanismus, den die Arbeiten zur Integration nahezu durchgängig aufweisen: Überall dort, wo es um Verhaltensstörungen geht, oder LehrerInnen ihr Verhalten ändern müssen, dort wird es schwierig (vgl. Feuser und Meyer 1987). Projektionen und Ausgrenzungen erfolgen auch in der Integration.
Ein vergleichbares Muster zeigt im übrigen Goffmans Studie: Jene Gruppe, die den Verhaltenserwartungen des Personals in der Psychiatrie oder anderen totalen Institutionen am besten entspricht, erhält innerhalb der Bedingungen der Anstalt einen scheinbar erträglichen Lebensraum, welcher ein "Unterleben" in Form der einen oder anderen subkulturbildenden Austauschprozesse der InsassInnen sichert. Nehmen wir z.B. die Pokerrunde auf der Psychiatriestation in dem Film "Einer flog über das Kuckucksnest". Wer sich jedoch, wie der von Jack Nicholson verkörperte Protagonist, nicht den Bedingungen der Dekulturation und Entmündigung durch die Einrichtung unterwirft und als Internierter keine Dankbarkeit und keine angemessenen Umgangsformen gegenüber dem Personal zeigt, der wird durch "Looping"-Effekte zu dem gemacht, was man ihm zuschreibt. Widerstand, der mit allen Mitteln zu brechen versucht wird, oder Lethargie, im gleichen Film durch die Figur des Indianers repräsentiert, sind die beiden nicht angepassten Reaktionsformen auf die institutionelle Gewalt der totalen Institutionen. Man erkennt im Bereich der "Idiotenanstalten" (so der alte Terminus) unschwer in ihnen die in der älteren Literatur vorgenommene Trennung von erethischen und torpiden Internierten. Entweder nehmen also die InsassInnen die Definitionen des Personals an. Sie verändern unter diesen Bedingungen struktureller Gewalt ihr Selbst, so daß sie, abgesehen von vielen kleinen Tricks ihres Unterlebens, jederzeit der impliziten Ordnung und den Zielen der Einrichtung entsprechen. Oder aber sie beharren auf ihrer Vernunft in dieser Vernunftfalle und werden damit Opfer weiterer Gewaltzyklen, auf die bezogen die InsassInnen ihre Symptome erst konstruieren.
Das mit der Konstruktion von Symptomen meine ich im vollen Ernst: Je schwerer geistige Behinderung ist, desto häufiger Verhaltensauffälligkeiten. Dies ist begründet in den mit zunehmender organischer Beeinträchtigung zunehmend eingeschränkten Möglichkeiten, Alltagssituationen zu kompensieren und nicht als Gewalt wahrzunehmen (vgl. Jantzen 1998 a,b). Je häufiger Verhaltensauffälligkeiten, desto häufiger aversive Verfahren im Bereich sog. therapeutischer Strategien. In der mit der "Schwere von Störungen", mit der "Anormalität" von Individuen steigenden Gefahr für das Personal, pädagogisch oder therapeutisch zu scheitern, liegt der wahre Grund für den Griff nach (trivialisierenden) Verfahren, die häufig ohne jeglichen empirischen Nachweis ihrer Wirksamkeit (vgl. Detterman und Thompson 1997, Störmer 1989) benutzt werden. Die Palette reicht über das gesamte Spektrum der Techniken von der Verhaltenstherapie über das Snoezelen bis hin zur Festhaltetherapie und natürlich unter Einschluß des medizinischen, insbesondere des psychopharmakologischen Instrumentariums. Je schwieriger die Situation um so eher wird ungeprüft auch das benutzt, was irgendwo einmal etwas genutzt hat, ob real oder phantasiert. Diese Nutzung selbst - so Thurnbull (1988) bezogen auf den Bereich schwerer geistiger Behinderungen - ist meist mit einem "Hauch von Fanatismus" verbunden. Und selbst wenn die Wirksamkeit bewiesen ist: Ist der Effekt nicht sehr oft mit einer Wirkung vergleichbar, welche die geschlossene Einrichtung auf die Unterwerfung der ihrer Ordnung entsprechenden Insassen hat?
Entsprechend bemerken Reiser u.a., daß auch offener und differenzierter Unterricht zur Verengung führt und zum Ausblenden der Realität, "wenn er als normgerechter Verhaltensablauf mißverstanden wird" (1998, S. 158), er damit also von einer Situation des Dialogs und der Kooperation in eine Bedingung struktureller Gewalt transformiert wird. Ob dies der Fall ist, ist jedoch der Situation nicht ohne weiteres anzusehen. Erst die Untersuchung der Grenzen der Situation erlaubt den Blick darauf, ob es sich um Emanzipation oder wie in Form von Goffmans angepaßten Insassen um (manchmal sogar freudige) Unterwerfung handelt. Wer sich demnach nicht ständig dialogisch und erkenntniskritisch der Position des anderen und schwächeren ebenso wie der seiner selbst vergewissert, läuft immer Gefahr, wenn schon nicht direkte, so doch strukturelle Gewalt zu praktizieren und am Leben zu erhalten.
Bevor ich im folgenden darauf zu sprechen komme, was strukturelle Gewalt denn eigentlich ist, und dank welcher Mechanismen sie ihr ständige Dasein im Verborgenen führt, dürfen Sie mich nicht in dem Sinne mißverstehen, daß ich Gewalt im gesellschaftlichen Leben für abschaffbar halte. Eine solche Fiktion gehört in das Reich der platonischen Ideen. Weil sie jedoch immer und überall präsent ist, kann nur eine reflexive Haltung zu einem anderen Umgang mit ihr führen. Eine weitere Verdrängung dieser Thematik wäre für die Behindertenpädagogik gänzlich unangemessen.
2. Strukturelle Gewalt und sozialer Tausch
Gewalt unterscheidet sich von Macht, folgen wir der klassischen Definition von Hannah Arendt (1970), durch die Verfügungsgewalt über Mittel. Sie ist ihrer Struktur nach instrumentell. Macht hingegen entsteht durch den Zusammenschluß von Individuen. Wenn jemand Macht hat, bedeutet dies, daß er bzw. sie ermächtigt wurde. Macht wird also durch entsprechende Entschlüsse und Handlungen von Individuen auf andere Individuen übertragen. Führt man diese Überlegungen weiter, so bedeutet Herrschaft sowohl mit Macht ausgestattet zu sein, als auch über Gewaltmittel, bzw. wie der Staat über ein Gewaltmonopol, zu verfügen, die zum Zweck der Aufrechterhaltung der Herrschaft angewendet werden können und angewendet werden (vgl. Klenner 1990). Was den demokratischen Staat von der Diktatur unterscheidet, sind u.a. die Gewaltenteilung und die Pluralität der Kontrolle der Macht sowie die der Anwendung von Gewalt. Nicht immer ist jedoch Gewalt ohne weiteres zu sehen und ausmachbar.
Galtung, von dem der Begriff strukturelle Gewalt stammt, unterscheidet in einer neueren Publikation (Galtung 1997) direkte, d.h. unvermittelte Gewalt, von indirekter, d.h. vermittelter Gewalt. Diese vermittelte Gewalt, die häufig als Naturereignis, als Schicksal oder sozialer Sachzwang erscheint, nennt er strukturelle Gewalt. Bezogen auf die Dimensionen Überleben, Wohlergehen, Identität und Freiheit differenziert er in den verschiedenen Bereichen direkte. vs. strukturelle Gewalt wie folgt: Überleben: Getötet werden vs. Verhungern oder durch Seuchen hingerafft werden. Wohlergehen: Verstümmelung, Belagerung, Sanktionen, Elend vs. Unterernährung, Krankheit. Identität: Desozialisierung, Resozialisierung, Bürger 2. Klasse vs. Penetration und Normierung. Penetration bedeutet, daß der Begünstigte einen Platz im Benachteiligten erhält. Freiheit: Unterdrückung, Vertreibung vs. Marginalisierung, d.h. an den Rand gedrängt werden, und Fragmentarisierung. Leider liefert Galtung keine Soziologie, mit der rekonstruiert werden kann, wie solche Verhältnisse entstehen und sich verändern. Allerdings führt er in einer Nebenbemerkung aus, daß die Verhältnisse von Begünstigung und Benachteiligung durch ungleichen Tausch aufrecht erhalten werden (S. 915). Dies hat uns zu interessieren, denn auf soziale Tauschverhältnisse kann eingewirkt werden.
Folgen wir der relationalen Soziologie von Pierre Bourdieu (vgl. Bourdieu 1993, Bourdieu und Wacquant 1996), so sind wir einerseits immer Resultat unserer bisherigen sozialen Geschichte und unsere Aktivitäten und Möglichkeiten sind aus dieser Geschichte begrenzt. Diese möglichen und realisierten Aktivitätsmuster als Grundlage unserer praktischen Vernunft nennt Bourdieu Habitus. Habitus ist negativ das durch unsere Geschichte sozial begrenzte und positiv das durch unsere Geschichte soziale gegebene Ensemble unserer Dispositionen und Auseinandersetzungsmöglichkeiten.
Abhängig von den sozialen Feldern, in denen wir uns befinden verfügen wir über soziales Kapital. Dieses ist für behinderte Menschen anders als für ihre Angehörigen oder für uns, die wir in professioneller Hinsicht als Angehörige des pädagogischen und des wissenschaftlichen Bereichs über unser soziales Kapital im Alltag hinaus über entsprechende Formen pädagogischen und wissenschaftlichen Kapitals verfügen. Natürlich nur und insoweit als unsere Dispositionen unseren Positionen entsprechen. "Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind. Es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen" (Bourdieu 1997 a, S. 63). Behinderte Menschen verfügen daher über sehr viel weniger soziales Kapital und entsprechend ihrer oft gestörten Enkulturation in der Regel auch über weniger kulturelles, wissenschaftliches usw. Kapital.
Vergleichbar dem Gebrauchswertversprechen der Waren in der Warenwelt verfügen wir nicht nur über reales soziales Kapital oder die entsprechenden anderen Kapitalformen, sondern auch über eine Zuerkennung von Kapital aufgrund unserer Erscheinungsform. Dieses symbolische Kapital, das uns durch soziale Akte der Ehrerbietung und des Austauschs im Rahmen von Gewohnheiten und Sitten zuerkannt wird und aberkannt werden kann, ist ein Kapital auf kognitiver Basis. Es beruht auf Erkennen und Anerkennen und entspricht in gewisser Hinsicht Max Webers Begriff des Charismas (Bourdieu 1998, S. 151). Im Prinzip wären wir daher in der Lage, behinderten Menschen auch in schwieriger Situation mit symbolischem Kapital auszustatten, also durch Anerkennung ihre Situation und ihr Selbstwertgefühl zu verändern, wenn, ja wenn die Struktur dieser Tauschbeziehungen nicht höchst unklar wäre.
Einerseits beruhen alle gesellschaftlichen Beziehungen auf Tausch, andererseits arbeiten wir in einem Berufsbereich, in dem wir altruistisch handeln sollen, Kinder lieben sollen, Humanität praktizieren wollen usw. Dies entspricht Goffmans Differenzierung in eine human erscheinende Vorderbühne und eine inhumane Hinterbühne des sozialen Geschehens in totalen Institutionen. Wir sind also ständig genötigt, die reale Grundlage der sozialen Austauschbeziehungen zu negieren (und erst recht unser in der Regel gutes Gehalt) und eine fiktive brüderliche Gleichheit in höchst ungleichen Austauschbeziehungen vorzutäuschen. Betrachten wir diese realen Austauschbeziehungen, bei denen es natürlich - das ist so auf der Ebene des Austauschs von symbolischem Kapital - unschicklich ist, über Ökonomie und Tausch zu sprechen, um dann zu analysieren, was denn nun gegen was getauscht wird.
Folgen wir Bourdieu, so ist dieser uns interessierende Typ von Austauschbeziehungen am deutlichsten in religiösen Unternehmen zu sehen (1998, S. 186), innerhalb derer eine religiöse Wahrheit und eine ökonomische Wahrheit existieren. Die Produktionsverhältnisse in diesen Unternehmen (und vergleichbar in schulischen, karitativen und medizinischen Bereichen) gestalten sich nach dem Modell der Familienbeziehungen. Diese Institutionen arbeiten ständig an der Euphemisierung, also Schönfärbung, von sozialen Beziehungen, indem sie diese mittels Ehrenamt und Opfergabe in Beziehungen transformieren, die wie in der Familie scheinbar von Berechnung absehen. Das "do ut des" (Gib, damit Du bekommst) ist scheinbar zugunsten der Philia, der Freundschaft und Brüderlichkeit, außer Kraft gesetzt. (ebd. S. 127). Dies funktioniert natürlich am besten in sinngeladenen Feldern wie in der Religion oder der Familie, folglich ist aufopferndes Handeln hier in einem durchweg höherem Maße zu finden, als im bürokratischen Feld (ebd. S. 195).
3. Professionelle Brüderlichkeit und sozialer Tausch: Die Samthandschuhe paternalistischer Herrschaft
Die fortwährende Tätigkeit der Pädagogik, wie Sisyphos Steine auf den Idealberg zu wälzen (so Bernfeld 1970), ihre ständige Nähe zu einem "Jargon der Eigentlichkeit" von "Ich-Du-Beziehungen", "pädagogischem Eros", Vorrangigkeit der "Beziehung" und "Begegnung" schaffen ihr eigenes Klima an Harmonisierung, innerhalb derer von Herrschaft und Gewalt nicht mehr die Rede ist. "Aus Theologie wird der Stachel entfernt, ohne den Erlösung nicht gedacht werden konnte" so Adorno (1965, S. 17). Ich erspare mir die zahlreichen möglichen Belege bis auf einen: Warum ist in der gegenwärtigen Behindertenpädagogik zwar im Sinne von L‚vinas von der notwendigen "Anerkennung des Antlitzes des Anderen" als Grund der Ethik die Rede, nicht aber von der von Bauman (1995) genau an dieser Realisierung persönlicher Verantwortung aufgezeigten Ambivalenz des Handelns, das jederzeit in Terror umschlagen kann? Warum wird zu Dialog und Begegnung ständig und überall Martin Buber zitiert, aber Paolo Freires (1970) scharfsinnige Analyse des Verhältnisses von Dialog und Befreiung sowie desjenigen von Anti-Dialog und Unterdrückung nicht einmal mehr wahrgenommen?
Ersichtlich liegen über den Mechanismus der Vermitteltheit hinaus, also der Einbettung der eigenen Handlungen in einer Kette von institutionellen und personellen Handlungen, noch andere Gründe vor, welche strukturelle Gewalt begründen. Der Mechanismus der Vermittelheit ist am Handeln von Bürokratien sehr gut zu sehen. Je zahlreicher die Stufen der Vermitteltheit, desto größer die soziale Distanz und desto geringer die persönliche Verantwortung (vgl. Bauman 1992). Dieser Mechanismus vermag jene Formen struktureller Gewalt zu begründen, welche Galtung (1997) bezogen auf Überleben, Wohlergehen und Freiheit differenziert beschrieben hat.
Die Folgen solcher Gewalt für das eigene moralische Handeln können leichter abgewehrt und bewältigt werden, indem in einer Konstruktion des "erhabenen Opfers", z.B. des verhungernden Kindes in der dritten Welt schlechthin, das einzelne Opfer - also ein konkretes verhungerndes Kind - nicht mehr empathisch besetzt wird (vgl. Zizek 1994). Der je einzelne, andere Mensch bleibt auf diese Weise ethisch indifferent für das eigene Handeln, als einzelnes Opfer wird er oder sie stellvertretend für die Opfer allgemein nur auf der Ebene des Mitleids in Form sentimentaler Rührung imaginiert. Ähnliche Distanzmechanismen stehen zur Verfügung, um die persönlich nicht direkt mögliche Beeinflussung des Wohlergehens oder der Freiheit anderer im Rahmen struktureller Gewalt emotional zu neutralisieren. Denn natürlich sind die Möglichkeiten von PädagogInnen gegenüber sozialstrukturellen Abläufen, welche zu Marginalisierung und Fragmentarisierung führen, sehr gering.
Gänzlich anders ist jedoch die Situation auf dem Gebiet der Identitätsbildung: Denn diese geschieht im direkten Austausch, in Ich-Du- Beziehungen. In dieser Nähe sind Dissoziation und Empathieverweigerung nicht ohne weiters möglich. Andererseits zwingen die ökonomischen Verhältnisse, in welchen die in diesen Bereichen Arbeitenden ihren Opferdienst, ihre Liebesgaben, oder auch nur ihren menschlich nach Möglichkeit anständigen Umgang mit ihren KlientInnen realisieren, ständig dazu, dieser Klientel Tauschergebnisse im Leistungsbereich abzuverlangen. Hinter der Oberfläche von Brüderlichkeit und Nähe findet zugleich gesellschaftliche Reproduktion, Bevölkerungsproduktion statt, welche bestimmten ökonomischen Beziehungen zu genügen hat. Die Arbeit der PädagogInnen darf nicht Ergebnisse zeitigen, die offen dem Gebrauchswertversprechen dieser Arbeit für den Arbeitgeber widersprechen. Es entsteht demnach eine Beziehungsfalle für beide Seiten:
PädagogInnen realisieren ihr Selbstbild als humane ErzieherInnen nur, wenn sie zugleich der nach außen hin verlangten Leistung entsprechen. Ist dies nicht der Fall, wird ihnen tendenziell symbolisches Kapital entzogen, es sei denn sie wären mit Schicksal und Natur konfrontiert. Symbolisches Kapital können sie wieder gewinnen, indem sie es sich von außen, über die Klagen bei den KollegInnen verschaffen, wie schlimm die Verhältnisse sind, oder indem sie zu den anderen bei Reiser u.a. (1998) genannten Abwehrkonstruktionen greifen. Sie definieren damit Auswirkungen struktureller Gewalt in Natur oder Schicksal um, für die sie nicht verantwortlich gemacht werden können. Für die Erschwernis ihrer Arbeit erhalten sie zusätzliches symbolisches Kapital (vgl. Fußnote 2). Oder aber sie erhalten es durch besondere Gegenleistungen der KlientInnen, indem diese die ständige "Beziehungsarbeit"2 , die die PädagogInnen trotz mangelnder Gegenleistung im Leistungsbereich erbringen, entsprechend honorieren. Dies verlangt für die KlientInnen jedoch, sich in die Umstände zu fügen und auf Widerstand zu verzichten. Indem die normierende Ausgrenzung als Selbstbild übernommen wird, kann zugleich das Personal als gut und liebend imaginiert werden, da es sich mir, trotz meiner fehlender Leistung, noch zuwendet. Penetration realisiert sich. Dieser Modus findet sich sowohl bei Goffmans angepaßten Internierten als auch bei jenen SchülerInnen, die trotz gleich schlechter Leistung eher in der Grundschule verbleiben im Vergleich zu solchen, die selbst oder deren Eltern den PädagogInnen Ärger bereiten. Zuwendung an die PädagogInnen ist demnach der Preis, den jene zahlen müssen, deren Leistung nicht hinreichend ist, damit sie in der Situation weiterhin Anerkennung und nicht soziale Ausgrenzung erfahren.
Genau dies ist die Beziehungsfalle, innerhalb derer Penetration und Normierung entstehen Hier in den emotionalen Bekundungen der Wohltäterschaft der Begünstigten gedeiht im Verborgenen der Paternalismus als immer erneute Basis struktureller Gewalt, hier wird ein "ideologischer Kokon" gesponnen, mittels dessen die herrschenden Gruppen ihre diskriminierenden Handlungen in wohltätige umdefinieren (Jackman 1996, S. 18). Folgen wir der Analyse von Mary Jackman, so sind es die folgenden Elemente, die Paternalismus auf Seiten der Herrschenden definieren.
- Der Anspruch, die wirklichen Interessen der Benachteiligten besser verstehen zu können, als diese selbst;
- der Anspruch moralischer Überlegenheit gegenüber der Gruppe der Benachteiligten und die damit verbundenen beanspruchte letzte Entscheidungsgewalt über deren wirkliche Interessen;
- die emotionale Bekundung der Wohltäterschaft;
- die Nachahmung von Eltern-Kind-Beziehungen;
- die Kriminalisierung der Benachteiligten bei Durchbrechen der von den Überlegenen vorgebenen Grenzen (vgl. auch Mead 1997 über den neuen Paternalismus als Mittel der Sozialpolitik);
- die Überprüfung der Würdigkeit, Leistungen oder Zuwendung zu erhalten;
- die sentimentale Selbstdefinition der vorgeblichen WohltäterInnen, wobei Sentimentalität schnell in Terror umzuschlagen vermag, sobald sich ihr Objekt nicht als dankbar erweist.
"Freundschaft und Gemütsbewegung werden den Unterworfenen unter der strikt auflegten Bedingung dargeboten, daß sie den ausbeuterischen Arrangements zustimmen", so Jackman (1996, S. 362) zur Wirkung dieser Faktoren. Die im täglichen Kontakt realisierten intimen Beziehungen sind, verbunden mit der Auferlegung strikter Segregationsregeln, zuviel für die Abwehr der unterworfenen Gruppe.
Der Sentimentalität der Herrschenden gegenüber den Unterdrückten entspricht deren symbiotische Bindung an die Überlegenen. Der Widerspruch von Autonomiebestrebungen einerseits und Auslieferung an Gewalt bei Übertretung der Situationsdefinition andererseits wird, wie bei allen symbiotischen Beziehungen nach innen verlagert. Die Wünsche nach Autonomie als vernünftige Akte in einer Vernunftfalle erfahren immer wieder aufs neue Selbstinterpretationen im Sinne der Herrschenden. Selbstabwertungen und u.U. sogar Selbsthaß sind notwendigerweise der Preis für den positiven Gewinn aus den emotionalen Annehmlichkeiten der Symbiose.
Was demnach auf der Vorderbühne mit Berufsethos garniert, freiwillig und überreich gegeben wird, nämlich Empathie, emotionale Nähe und Beziehung, erweist sich auf der Hinterbühne als Tauschobjekt, das nur gegeben wird, sofern die Vorbedingung der emotionalen Anerkennung der Überlegenen gewährleistet ist.
Hegel hat in der "Phänomenologie des Geistes" (HW 3, 1970) die Entstehung derartiger Herr-Knecht-Verhältnisse, die aus dem "Kampf um Anerkennung" resultieren, präzise dargestellt. Aber immerhin hat der Knecht noch die Möglichkeit, über seine Arbeit selbst die Möglichkeiten des Herrn zu überschreiten.
Einem behinderten Menschen bleibt zwar die Möglichkeit, nein zu sagen zu dem ungleichen Tausch, allerdings häufig um den Preis der Eskalierung des Einsatzes von pädagogischen und therapeutischen Techniken und hiermit verbundener offener und versteckter Gewalt statt dialogischer Anerkennung. Aber genau dies ist es, was ihn oder sie behindert macht (vgl. Jantzen 1998 a,b).
Für die Behindertenpädagogik bleibt in dieser Situation als nicht unterdrückerische Perspektive lediglich, aber dies ist unendlich viel, sich einzugestehen, daß sie anstelle der Brüderlichkeit auf der Vorderbühne, das "Do ut des" des symbolischen Tauschs auf der Hinterbühne in der Form praktiziert, daß sie Anerkennung als Vorleistung von jenen verlangt, die sie selbst vorbehaltlos (!) anzuerkennen hätte.
Die eigene Angst zu versagen, die nach Meinung von Reiser u.a. (1998) jene zahlreichen Abwehrmechanismen hervorbringt, die ich hier soziologisch zu analysieren versucht habe, wäre aus dieser Sicht vorbehaltlos als notwendig anzuerkennen. Damit wird Macht an jene delegiert, welche bisher ohnmächtig waren. Sie als vernunftfähig und vernünftig anzuerkennen und zu begreifen, daß Vernunft sich nur in der gemeinsamen Realisierung einer "Pädagogik der Unterdrückten" (Freire 1970) realisieren kann, ohne jede Stellvetreterschaft und Bevormundung, dies würde die Pforte zu einer Behindertenpädagogik eröffnen, die gänzlich anders ist als die heutige.
Dieser radikale Verzicht auf Stellvertretung und Bevormundung zugunsten der Perspektive, etwas gemeinsam mit Behinderten zu tun, setzt voraus, daß BehindertenpädagogInnen "eigene Gründe haben, sich an den diesbezüglichen Auseinandersetzungen zu beteiligen, daß sie sich die Motivationen des Handelns nicht ausborgen" so Sierck und Mürner (1995; S. 319). Möglicherweise könnte die eigene Befreiung der sog. BehindertenpädagogInnen aus den hier aufgezeigten unwürdigen Verhältnissen entfremdeten Handelns gegenüber den sog. Behinderten eine eigene Perspektive sein, die tragfähig ist. Denn die Freiheit, so Octavio Paz "ist weder eine Idee noch ein Glaube. ¯Die Freiheit läßt sich nicht definieren: man übt sie aus®. Sie ist eine Wette. Der Beweis für Freiheit ist kein philosophischer, sondern ein existentieller: es gibt Freiheit immer dann, wenn es einen freien Menschen gibt, immer dann, wenn ein Mensch wagt, "nein" zur Macht zu sagen" (1981, S. 14f.).
1) vgl. die im Rahmen dieser Tagungen erstmalige Diskussion auf der Dozententagung in Bremen 1996 (Jantzen 1997)

2) Je niedriger die behindertenpädagogische Qualifikation umso eher wird Beziehungsarbeit als Hauptmerkmal der eigenen Qualifikation genannt (vgl. Elbing und Rohmann 1994 bzw. die Literatur zum Helfersyndrom u.a. Schmidbauer 1981)


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Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Wolfgang Jantzen
Schillerstr. 33
D-27711 Osterholz-Scharmbeck


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