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Peter Rödler

Nichtsprechend und doch in der Sprache - zum pädagogischen Handeln mit schwerstbehinderten Menschen

Claudia gehört zu der Gruppe von Menschen, die als 'schwerstbehindert' bezeichnet wird. Sie liegt im Bällchenbad. Sanfte Musik schwebt im Raum. Sie scheint entspannt, der Kopf pendelt ein wenig hin und her. Die Lehrerin sagt: Sie genießt das hier sehr!"

Auch Jan wird als Schwerstbehinderter bezeichnet. Er sitzt im Rollstuhl, zur Seite gesunken, Die Brust wölbt sich vor, der Kopf ist nach hinten gedehnt. Die Lehrerin versucht seine Aufmerksamkeit durch ihr Flötenspiel zu erregen; Jan bleibt regungslos. Später beim Frühstück: Die Lehrerin füttert Jan mit Brei, den er unter Schwierigkeiten schluckt. Den Versuch, ihn mit Mandarinenstückchen oder ähnlichen kleinen Speisen zu füttern, hat sie aufgegeben. Jan drückte die Stückchen mit der Zuge wieder aus dem Mund heraus. Die Lehrerin berichtet: Jan mag nicht kauen, er mag nur Brei!" Nach dem Frühstück wird Jan zur Krankengymnastik abgeholt.

Ganz offensichtlich findet hier, auch ohne daß die beeinträchtigten Menschen sprechen können, ein Handeln in der Sprache statt. Ganz offensichtlich scheint es den Lehrerinnen gelungen, aus der gemeinsamen Zeit mit diesen Menschen heraus einen Eindruck von deren Befindlichkeit zu bekommen, einen kleinen Ausschnitt von deren Welt zu erhaschen. ... Und dennoch, es bleibt ein Rest Unzufriedenheit, bedenkt man die aufgeführten Beispiele.

Die Arbeit mit sogenannten 'schwerstbehinderten Menschen' stellt in besonderer Weise die Frage nach der Legitimation des pädagogischen Tuns. Grund hierfür ist eine Eigenschaft dieser Menschen, nämlich nicht sprechen zu können und dies auch absehbar niemals erlernen zu können. Es ist Schwager (1990) zu danken, diesen Aspekt als das Zentrum der Reflexion um diese Arbeit formuliert zu haben. Was macht das Besondere dieses Aspektes der Arbeit aus?

Erzieherisches Tun wie pädagogisches Handeln legitimieren die von ihnen ausgehenden Eingriffe in das Leben der Erzogenen - wenn nicht durch die Zurichtung gesellschaftlich nützlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten - durch den Vorgriff auf einen Kommentar, eine Beurteilung durch die Erzogenen selbst, wenn diese durch die Erziehung zu eben diesem Kommentar in die Lage versetzt wurden. Pädagogisches Handeln in diesem Sinne kann sich deshalb niemals alleine in dem Reflektieren auf die - instrumentelle - Zukunftsbedeutung des Lehrgegenstandes erschöpfen, sondern findet sein wesentliches Ziel in dem Abbau des den Erziehungsakt begründenden Gefälles zwischen Lehrer und Schüler, Erzieher und Zögling. Die Emanzipation der Erzogenen gegenüber dem Einfluß des Erziehers, die zunehmende Mitbeteiligung der Erzogenen am Erziehungsprozeß bleibt so gesehen die einzig legitime Basis für eben dieses Handeln, sieht man von der Legitimation der Exekution des gesellschaftlichen Interessen im Sinne der 'Erzeugung' nützlicher Mitglieder ab.

Das hier beschriebene Verhältnis ist natürlich nicht unproblematisch und es stellt sich durchaus schon im Allgemeinen die Frage nach der Möglichkeit, Emanzipation im operationalen Sinne zu Lehren, wie Brumlik (1992) überzeugend zeigt. Der Ausweg nicht-zu-erziehen und der 'selbstorganisierten Entwicklung' der Kinder nur beste Bedingungen zu schaffen ist im Allgemeinen schon trügerisch - welches sind die 'besten Bedingungen'? -, verbietet sich in der Arbeit mit Menschen mit schweren geistigen Behinderungen aber von selbst.

Verhindere ich das rhythmische Kopf-an-die-Wand-schlagen nur aus pflegerischen Gründen, um schwere Verletzungen oder irreparable Schäden wie das Ablösen der Netzhaut zu verhindern? - Und wie verhalte ich mich dann gegenüber weniger schädlichen Stereotypien? Gehört es nicht viel mehr zur Würde meines Verhältnisses zu Menschen mit derart beeinträchtigtem Zugang zur Welt, daß das beschriebene Verhalten ihnen das einzig sinnvolle ist, daß ich ihnen Alternativen eröffne ... die dann aber wieder zu verantworten wären.

Wie also der Forderung nach Reflexion der pädagogischen Tätigkeit gerecht werden? Mir scheint der Ansatz, Pädagogik an der zunehmenden Mitbeteiligung der Edukanten am Erziehungsprozeß entlang zu legitimieren, weiterhin tragfähig. Da diese Beteiligung wie auch der Reflexionsprozeß über das pädagogische Geschehen aber offensichtlich im Bereich der Sprache stattfindet, gilt es im Folgenden zu entwickeln, was die Sprache mehr ist als der konkrete Vollzug des Sprechens. Der einfache Schluß, dieses 'Mehr' sei der Bereich der non-verbalen Kommunikation, verbietet sich hierbei. Der non-verbale Bereich steht als der Bereich präsentativer Symbolik (Langer 1984) dem Bereich der diskursiven Symbolik entgegen. Er ist zwar der Intuition zugänglich - einer durchaus wichtige Informationsquelle im pädagogischen Prozeß -, nicht aber zur Reflexionen fähig. Bei dem hier angegangenen Vorhaben geht es aber gerade um den Platz von Menschen mit schweren Behinderungen im Diskurs um den pädagogischen Prozeß.

Die Analyse dieser Fragestellung nimmt ihren Ausgang in der Aussage Maturanas und Varelas (1987) das Kennzeichnende an der Welt der Menschen sei die Erzeugung des 'Reiches der Sprache' (226). Diese Aussage, die in ihren Darlegungen geradezu paradigmatischen Charakter bekommt - sie sprechen sogar davon, Menschen würden sich gegenseitig mit Sprache füttern (Linguolaxis) - bleibt aber im Verhältnis zu dieser Bedeutung und ihren ansonsten äußerst detailierten Aussagen merkwürdig unscharf. In einer Erweiterung der Darlegungen Maturanas und Varelas möchte ich deshalb im Folgenden das Kennzeichen der Welt der Menschen herausarbeiten.

Maturana und Varela stellen den Bezug eines Lebewesens zu seinem Milieu wie in Abbildung 1 gezeigt dar (1987, 84). Es wird deutlich: aus dieser Fassung eines einsamen Einzelwesens gegenüber einem unendlichen Milieu ist noch kein Gewinn für unsere Fragestellung zu ziehen. Es soll hier aber dennoch nicht unerwähnt bleiben, daß diese Situation für Maturana und Varela den Prototyp der strukturellen Koppelung eines jeden Lebewesens an seine Umgebung darstellt, alle weitergehenden Beschreibungen - wie auch die folgenden - durch die diese Beschreibung wählenden Beobachter erzeugt sind.

Die Situation, daß sich Einzelwesen in ihrem Handeln rekursiv aufeinander beziehen, führt Maturana/Varela zu einer erweiterten Darstellung in der sich eher Sprache unterbringen läßt (Abbildung 2). So bilden Tiere in solcher Art darstellbaren Rekursionen soziale manchmal sogar sprachliche Bereiche. Soziale Bereiche werden dabei beschrieben als rekursive Interaktionen ... wobei diese Interaktionen eine operationale Umgrenzung definieren, die sie selbst einschließt" (210), d.h. heißt mit anderen Worten, daß sich die soziale Gruppe in einer Weise gegeneinander und gegenüber der Umwelt verhält, daß sie als soziale Gruppe - an ihren sozialen Regeln - erkennbar wird. Die Koordination des Verhaltens, die diese soziale Koppelung mit sich bringt, wird dabei als Kommunikation bezeichnet. Für sprachliche Bereiche gilt darüberhinaus, daß von einem Beobachter diesem Verhalten eine das Verhalten steuernde Bedeutung unterstellt werden kann (224). Hier ist also nicht angeborenes genetisch gesteuertes kommunikatives Verhalten gemeint, sondern ein solches Verhalten, das auf die in dieser Gruppe tradierten sozialen Regeln Bezug nimmt.

Allerdings, alle die hier beschriebenen Leistungen bis hin zur Weitergabe erworbenen Wissens an die nächste Generation sind im Tierreich vorfindbar und werden von MATURANA und VARELA exemplarisch beschrieben. All diese Möglichkeiten führen aber auch in deren Darstellungen nicht zur Entstehung des 'Reichs der Sprache'.

Der wesentliche Unterschied der Sprache im Vergleich zu den beschriebenen sprachlichen Bereichen ist, daß ein Beobachter feststellen kann, daß die Objekte unserer sprachlichen Unterscheidungen Elemente unseres sprachlichen Bereiches sind. Sprache ist ein fortdauernder Prozeß, der aus dem In-der-Sprache-sein besteht und nicht in isolierten Verhaltensweisen" (226), d.h. hier wird in der Kommunikation dieser Koppelungsprozeß selbst reflektiert. Die Sprache ermöglicht also dem, der damit operiert, die Beschreibung seiner selbst und der Umstände seiner Existenz" also letztlich die neuen Phänomene Reflexion und Bewußtsein (227).

Diesem von Maturana und Varela beschriebenen wirklich dramatischen Unterschied gegenüber den sprachlichen Bereichen werden die Ausführungen der Autoren um diese neue Qualität selbstreferenter Aktivitäten nicht gerecht, wobei sie an dieser Stelle selbst ein Unbehagen formulieren Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, wollten wir in eine tiefergehende Erörterung der vielen Dimensionen der Sprache beim Menschen einsteigen" (227). In ihren Darlegungen erscheint der Fortschritt hin zur Entstehung von Sprache alleine in einer noch weitergehenden Komplexität des Zentralnervensystems des Menschen zu bestehen.

Meine angekündigten Überlegungen über die beschriebenen Darlegungen hinaus setzen an diesem Punkt an. Gehen wir nocheinmal von der Abbildung 2 aus. Wie ist die Entwicklung von sprachlichen Unterscheidungen von sprachlichen Unterscheidungen hier denkbar? Unterscheidungen benötigen einen exzentrischen Ort von dem aus unterschieden werden kann. Eine Reflexion des Milieuzugangs ist auf der zweiten Ebene der sozialen Koppelung möglich. Diese bildet dem ersten Niveau den geforderten exzentrischen Ort. Wo aber ist der exzentrische Ort der Reflexion bezogen auf diesen Prozeß?

An dieser Stelle möchte ich auf eine Eigenart der Gattung Mensch zurückkommen, die hier unversehens große Bedeutung gewinnt: die weitgehende Instinktungebundenheit und damit Unbestimmtheit der Menschen. Gehen wir davon aus, daß beim Handeln in sozialen und sprachlichen Bereichen der Kern um die sich diese Koppelung gestaltet instinktiv, d.h. gattungsgebunden, festgelegt ist, so wird durch diese Gebundenheit und nicht durch ein Mehr oder Weniger an Komplexität ein Reflektieren dieser Prozesse unmöglich gemacht: Tiere können sich an sich ändernde Umwelten anpassen nicht aber 'aus ihrer Haut heraus'. Daß dieses im Falle von Menschen durchaus passieren kann, scheint uns die Existenz von psychotischen Menschen und Autisten zu zeigen. Diese Auslegung vergißt aber, daß die Unsicherheit der Unbestimmtheit, die die geforderten Reflexionen erst ermöglicht, für alle Menschen gilt, Gattungseigenschaft und -schicksal ist. Kükelhaus (1981) drückt dies, wie ich meine, unvergleichlich aus:

Alles hat ein dickes Fell.
Nur der Mensch nicht: er ist ein nackter Wurm,
ohne angestammtes Schlupfloch.
Was muß ihm alles zu Hilfe eilen, damit er bestehen kann!
Ich glaube er ist ein einziger Hilferuf.
Wenn er das vergißt, wird er eine Maschine!
(51)

Die angesprochenen Personengruppen zeigen also keine individuelle Pathologie sondern diese Menschen führen uns vor Augen, was geschieht, wenn es nicht gelingt, diesen Hilferuf produktiv zu beantworten. Dem Duktus dieser Gedanken folgend könnte man sagen, daß 'die Haut' - oder 'das Fell' - eines jeden Menschen erst durch das Begegnen in der Sprache gebildet wird. Das In-der-Sprache-sein zeigt sich so als existenzielle Bedingung für alle Menschen. Es wird zum paradigmatischen Maßstab für jede humane Begegnung, in Sonderheit aber für Begegnungen im Rahmen von Erziehung, unabhängig davon, ob die Erzogenen sprechen können bzw. absehbar sprechen werden können oder nicht. Die Herstellung einer Begegnung, die die Charakterisierung 'in der Sprache' verdient, ist denn auch allen anderen pädagogischen und didaktischen Erwägungen vorgängig.

Bevor ich abschließend die eingangs beschriebenen Situationen entlang dieses neuen Maßstabs beurteile, muß die geforderte Charakterisierung 'In-der-Sprache-sein' noch genauer bearbeitet werden. Ich kehre deshalb zu einer Variante der Abbildung 2 zurück, die angesprochenen Probleme im Zusammenhang mit dieser Grafik überwindet.

Wir hatte hier die Abwesenheit eines gegenüber dem sozialen bzw. sprachlichen Bereich exzentrischen Ortes festgestellt. Dieser ist in der Abbildung 3 als eigener Bereich - eben dem 'Reich' der Sprache - eingezeichnet. Es ist erkennbar, daß von diesem Ort aus die geforderte, für Sprache kennzeichnende, Reflexion geleistet werden kann.

Wie muß dieses Reich der Sprache nun in der Begegnung repräsentiert werden, daß es Menschen ermöglicht wird, sich zunehmend in diesem Reich 'einzunisten'? Betrachten wir die vereinfachte Abbildung 4. Es zeigt sich, daß das Reich der Sprache vermittelnd in den den sozialen Bereich bildenden Prozeß eingreift. Beginnen wir mit der Analyse bei dem doch augenscheinlich günstigsten Fall völliger Verständigung. Eine völlige Übereinstimmung würde eine eindeutige Bedeutung der Welt repräsentieren, die mit der verworfenen Struktur in Abbildung 2 übereinstimmen würde: c)-(C)-(c. Der exzentrische Ort der Sprache wäre zerstört (siehe Abbildung 5).

Des gleichen käme es nicht zur Entstehung von Sprache, wenn keine Verständigung gelänge. Die Existenz des 'Reichs der Sprache' zeigt sich so an einen Schwebezustand gebunden in dem zwar Verständigung stattfindet, der gemeinsame Gegenstand aber immer mehrdeutig bleibt.

Dieses Situation ist gewährleistet durch den Zeichencharakter der Sprache. Das 'Reich der Sprache' stellt sich so als ein Container von Zeichen, die in ihrem Gesamt die Welt der Menschen zu diesem Zeitpunkt repräsentieren, dar. Hierdurch wird es möglich, daß eine Verständigung über die Signifikanten stattfindet, während die geforderte Differenz auf der Seite des Signifikats bestehen bleiben kann: c') - (c' - C - c") - (c" (siehe Abbildung 6).

(Der Unterschied zwischen Signifikant und Signifikat sollte richtiger durch ein geschriebenes Wort (Signifikant = das Bezeichnende, z.B. BAUM) und durch das ein Bild des mit BAUM bezeichneten Gegenstandes (Signifikat = das Bezeichnete) dargestellt werden. Da in unserem Zusammenhang hier dann aber mehrere Baumbilder in die Grafik hätten eingefügt werden müssen, wäre diese zu unübersichtlich geworden. So steht das konventionell geschriebene C (oben) als Variable für einen Signifikanten (z.B. die Buchstabenfolge B-A-U-M) während die verschiedenen unkonventionell gezeichneten c Variable (!) für die entsprechend vielfältigen Signifikate (Bilder verschiedener Bäume) darstellen.)

Nebenbei bemerkt legen neuere Computersimulationen von Dyslexien mit Hilfe von neuronalen Netzen die Existenz von zentralnervösen Verarbeitungsbereichen, die als semantische Räume beschreibbar sind und damit dem inneren Korrelat des Signifikats zugerechnet werden könnten, nahe (Hinton Plaut Shallice 1993).

Ein näheres Eingehen auf die sich hier eröffnenden Details dieses Modells des 'Reichs der Sprache' verbietet die Kürze der Darstellung. Es bleibt aber festzuhalten, daß es zur existenziellen Bedingung von Sprache gehört, daß zwar einerseits ein gemeinsamer Raum von Regeln, Verständigung gesucht werden muß, daß Sprache aber dort stirbt, wo die erreichte Verständigung als Wissen um die Anderen, d.h. das eigene Bild von den Anderen als deren Wesen verkannt wird bzw. dort wo 'Einstimmigkeit' durch Machtmittel hergestellt wird.

Sprache existiert dagegen dort lebendig, wo der eigene Anteil der Sprecher am Reich-der-Sprache immer wieder durch überraschende Mitteilungen, Aspekte und Blickwinkel des Gegegenübers konterkariert werden. Alleine diese Momente, in denen sich der eigene Wunsch, die eigene Erwartung gegen die Mitteilung von der anderen Seite wehrt, beinhalten mit einer gewissen Sicherheit Mitteilungen von der Existenz der Anderen. So erweist sich das 'Reich der Sprache' gerade da existent, wo die sich so realisierende Begegnung die Forderung nach Mitbeteiligung als Grundlage der Legitimation von Pädagogik einlöst. Daß solche Begegnungen nicht an die Möglichkeit, sprechen zu können, gebunden sind, sollen die abschließenden Praxisbeispiele verdeutlichen.

Kommen wir zurück zu unserem ersten Beispiel, in dem Claudia 'glücklich' im Bällchenbad liegt. Es zeigt sich, daß hier keinerlei Mitteilung, Variation, Überraschung mehr stattfindet. Claudia und ihre Lehrerin leben in einem sprachlichen Bereich, dem jegliche Dynamik abhanden gekommen ist. Zudem ist die positive Beschreibung der Situation durch die Lehrerin höchst fragwürdig, da zum einen für Claudia gar keine Alternative besteht und zudem der Druck in dieser Arbeit projektive Verkennungen fördert.

Aber stellt sich das zweite Beispiel so anders dar? Sicher besteht hier im Gegensatz zum ersten Beispiel mit seiner Übereinstimmung im Ja ein deutliches 'Nein' auf der Seite von Jan in Bezug auf feste Nahrungsmittel, Jan scheint zumindest in diesem Ausdruck Subjekt der beschriebenen Begegnung zu sein. Doch auch hier wirkt die Beschreibung der Situation eigentümlich statisch. Die nähere Betrachtung zeigt auch hier, daß der das 'Reich der Sprache' bildende Prozeß zum Erliegen gekommen ist, das 'Nein' von Jan der Lehrerin vertraut ist und so keinerlei Neuigkeit in den Begegnungsprozeß einführt.

Das Gemeinsame und Kennzeichnende an beiden Situationen ist die Gewißheit der Lehrerinnen in ihrer Interpretation des Status quo. Diese Gewißheit über die Befindlichkeit bzw. die Reaktionen ihrer beeinträchtigten Schüler ist, neben dem Ausdruck von völligem Unverständnis, fast durchgängig bei den pädagogisch in diesem Bereich Tätigen wie bei den Eltern beeinträchtigter Menschen feststellbar. Auch wenn dieses Verhalten aus der Unsicherheit und der Angst in dieser Arbeit heraus als Sicherheit produzierende Stereotypisierung individuell verständlich ist, kann hier zumindest festgestellt werden, daß dieses Verhalten eine der entscheidenden Bedingungsfaktoren für das Verfehlen eines fruchtbaren Platzes im 'Reich der Sprache' darstellt und damit als wesentlich für das Zustandekommen von geistiger Behinderung in der gewohnten Form angesehen werden muß.

Der Fortgang des zweiten Beispiels nahm dann doch einen - überraschend - fruchtbaren Verlauf. Ich lernte Jan bei einem Besuch in der Klasse einer ehemaligen Studienkollegin kennen. Ich hatte bei diesem Besuch also die Chance eines unvorbelasteten Blicks. fünfzehn Minuten mit Jan alleine gelassen bekam ich bei Versuchen, mit ihm Kontakt aufzunehmen, den Eindruck, daß bei seiner Körperhaltung - die Brustwirbelsäule seitlich und nach vorne gedehnt, den Kopf in den Nacken gelegt - die erwarteten Reaktion - Kopf drehen - wie auch das Kauen überhaupt nicht möglich waren. In der entsprechenden Körperhaltung war es mir zumindest ohne Anstrengung nur möglich Lutschbewegungen zu machen. Aus dieser Haltung heraus stellte ich fest, daß das wesentliche Problem hierbei nicht der Nacken sondern die eigenartige Dehnung des Brustbereiches war. Richtete ich diesen Bereich auf, bekam ich den Kopf für die gewünschten Bewegungen frei. Nachdem ich Jan durch einen zusätzlichen Keil in seinem Schalenstuhl in eine vergleichbar aufrechte Haltung gebracht hatte aß Jan spontan nicht nur einige Mandarinenschnitze sondern sogar ein geschältes Apfelstück: Jan mochte Obst essen! Beim Brei hatte er allerdings weiterhin Schwierigkeiten: Den mochte er nämlich nicht! Darüberhinaus wendete er den Kopf in Richtungen, die ihn interessierten.

Es zeigte sich, daß in diesem Fall ein ganz mechanisches Problem die Orientierung von Jan, wie auch seine Kaumöglichkeit unterbunden hatte. Ich habe dieses Beispiel gewählt, um zu zeigen, wie sehr der hier geforderte Versuch auch nicht-sprechenden schwer beeinträchtigten Menschen einen Platz in der Sprache zu ermöglichen, im Einzelfall von dem Zusammenfließen verschiedenster Kompetenzen abhängig sein kann und es nicht genügt, nur einfach im Sinne der erhobenen Forderung 'offen' zu sein. Die Krankengymnastin hätte dieses Problem sehen können, nur hätte Sie dafür am Unterricht teilnehmen müssen. So kannte sie Jan nur von den Übungen auf dem Spastikerball im Therapiezimmer.

Hieraus ergibt sich, neben der Forderung gewonnene Ansichten über beeinträchtigte Menschen in besonderer Weise immer wieder zu neu zu hinterfragen, die Forderung nach einer Zusammenarbeit der verschiedenen Fachleute bei den Rekonstruktionen, die die Begegnung unterstützen sollen, um diese Vorarbeiten auf eine möglichst breite Basis zu stellen.

Homogene Schwerbehindertengruppen verbieten sich vor dem Hintergrund der hier vorgelegten Überlegungen von selbst, da hier das gesamte Handeln so sehr von den Pflege- und Therapiekräften in ihrer jeweiligen Eigenart geprägt ist, daß eine diese Abläufe modifizierende Rückwirkung durch einen Schüler wenig wahrscheinlich ist.

Ein letztes Beispiel soll abschließend zeigen, daß es im Einzelfall allerdings, trotz bester Bedingungen und wirklich gemeinsamen Handelns aller Beteiligten entlang dem beschriebenen Konzept, sehr lange dauern kann, bis ein Mensch, der solche Erfahrungen bis dahin noch nicht machen durfte, die angebotenen Möglichkeiten, aktiv auf seine Mitwelt einzuwirken, auch ergreift.

Wolfgang kann sprechen. Er benutzt diese Möglichkeit aber nicht zu einer flexiblen Kommunikation. Wolfgang wird als Autist bezeichnet. Es gibt also durchaus die Möglichkeit, daß auch sprechende Menschen der Zugang zu dem 'Reich der Sprache' im entwickelten Sinne erschwert ist.

Seine Betreuerinnen im Wohnheim waren mit seinen spontanen Ansprüchen auf Aufmerksamkeit, die er durch massive Sachbeschädigungen zu erzwingen versuchte, und denen sie wegen der Notwendigkeit, auch für den Rest der Gruppe vorhanden sein zu müssen, nicht nachgeben konnten, unzufrieden. Allerdings empfanden sie ihn in solchen Momenten zugewandter als in seinen stereotypen Freizeitbeschäftigungen: einen bestimmten Waldweg entlang laufen, im Auto herumgefahren werden, einen bestimmten Katalog durchblättern

Wir kamen überein, daß eine Person des Teams einen Nachmittag in der Woche völlig für Wolfgang zur Verfügung stehen sollte. Der Träger war bereit, die Mehrkosten zu übernehmen. In der übrigen Zeit sollte Wolfgang mit Hilfe eines Kalenders immer wieder, besonders aber wenn er in einer Situation, in der dies nicht möglich war, die Aufmerksamkeit eines Erziehers erregen wollte, auf dieses Ereignis hingewiesen werden.

Die Befürchtungen des Teams, daß Wolfgang dieses Angebot nicht für sich würde verwerten können, bewahrheiteten sich am Anfang: Wolfgang 'wünschte' die Dinge, die die Erzieher erwarteten, die gewohnten Freizeitbeschäftigungen. Nach etwa zwölf Wochen weigerte sich Wolfgang plötzlich in dieser Zeit etwas zu wünschen. - Er wünschte sozusagen nicht zu wünschen.- Auf die Frage der Erzieherin, der die drei Stunden ohne Aktivität lange wurden, ob sie ihm nicht wenigstens etwas erzählen solle antwortete er: "Still sein!"

Dieses ging etwa sechs bis acht Wochen so. Die Erzieherin saß bei ihm, er wünschte nichts, sie schwieg. Nach diesen acht Wochen, in denen er mit seinem Wunsch, nichts zu wünschen gegenüber der Totalität des Angebots die einzig mögliche Variante, die ganz von ihm kam, gewählt hatte, hatte er so viel Vertrauen in dieses Angebot gefaßt, daß er dazu überging, nicht stereotyp differenzierte Wünsche zu äußern. Um diese Möglichkeit herum stabilisierte sich dann sein gesamtes Verhalten im Wohnheim.

Ich fasse zusammen: Auch nicht-sprechenden Menschen kann ein Platz im Reich der Sprache eingeräumt werden, wenn es gelingt, Situationen zu schaffen, in denen diese Menschen in möglichst unvorhergesehener Form modulierend auf die sozialen Gesetze in denen sie leben einwirken können. Diese Grundlage pädagogischer Tätigkeit wendet sich gegen alle nicht reflektierbaren positiven Mystifizierungen dieser Arbeit wie sie im Rahmen der Begründung 'basaler' Stimulation oder Kommunikation vorkommen. Die hier grundgelegte Arbeit mit beeinträchtigten Menschen zeigt sich wie jede Begegnung von Menschen in der Sprache existenziell gebunden an Momente von Uberraschung und Auseinandersetzung, da alleine hier im Erlebnis des notwendig werdenden Umbaus der eigenen Erwartung das jeweilige Gegenüber im eigenen sprachlichen Bereich einen Platz gewinnt.

Dieses Vorhaben erfordert neben der interdisziplinären Zusammenarbeit der verschiedenen Fachleute und der Einbettung des Geschehens in einen Lebenszusammenhang der für solche Begegnungen Freiräume bietet und nicht völlig organisatorisch gefüllt ist, eine außerordentliche Flexibilität von allen Beteiligten und den Mut das eigene Urteil immer wieder zu revidieren. Die Arbeit bleibt so also immer gebunden an Momente von Unsicherheit.

Nimmt man dieses Risiko allerdings auf sich so erweist sich diese Arbeit auch für den eigenen Entwicklungsprozeß als außerordentlich fruchtbar, ermöglicht sie doch tiefe Einblicke in den Grund der eigenen Existenz. Diese Arbeit ist so gesehen wirklich ein gemeinsamer Produktionsprozeß. Was produziert wird? Das diesen Menschen gemeinsame Segment des Reichs der Sprache in dem sich unter solchen Bedingungen die gesamte Welt der Menschen widerspiegelt.

Literatur:

BRUMLIK M.: Advokatorische Ethik - Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Bielefeld 1992. - KÜKELHAUS H.: Du kannst an keiner Stelle mit eins beginnen. Zürich 1981. - LANGER S.: Philosophie auf neuem Wege. Fankfurt am Main 1984. - HINTON G.E./ PLAUT D.C./SHALLICE T.: Computersimulation eines Hirnschadens. In: SPEKTRUM 12/1993, 68 ff. - MATURANA H.R./VARELA F.: Der Baum der Erkenntnis. München 1987. - RÖDLER P.: Lebenslang auf Hilfe anderer angewiesen - Grundlagen einer allgemeinen basalen Pädagogik. Frankfurt am Main 1993. - SCHWAGER M.: Verständigung mit geistigbehinderten Menschen. Frankfurt am Main 1990.

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