DEM WAHREN SCHÖNEN GUTEN
oder
warum sich über Geschmack nicht streiten läßt und er doch davon abhängt!
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... Unter den Vulkanen, vor den Schneebergen, zwischen den großen Seen - der
wohlriechende, der stille, der wilde chilenische Wald ... Die Füße versinken im
toten Laub, ein brüchiger Zweig knackt, die riesigen Araukarien recken ihre krause
Gestalt, ein Vogel des kalten Urwalds kommt geflogen, flattert, läßt sich im
schattigen Gezweig nieder. Und wie eine Oboe ertönt es aus seinem Versteck ...
Durch die Nasenflügel bis in die Seele hinein dringt das wilde Aroma des Lorbeers,
das dunkle Aroma des Boldostrauchs ... Die Zypresse der Guaitecas hemmt meinen
Schritt ... Es ist eine senkrechte Welt: ein Volk von Vögeln Massen von Blättern ...
Ich stoße an einen Stein, durchwühle die entdeckte Höhlung, eine riesige,
rotbehaarte Spinne blickt mich an mit starren Augen, reglos, groß wie ein Krebs ...
Ein goldener Laufkäfer entsendet seinen giftigen Hauch gegen mich, während wie
ein Blitz sein strahlender Regenbogen verschwindet ... Weiter laufe ich in einem
Wald aus Farnen, die viel höher sind als ich: sechzig Tränen fallen aus ihren grünen
kalten Augen auf mein Gesicht, und noch lange zittern ihre Fächer hinter mir ... Ein
morscher Stamm: welch ein Schatz! - Schwarze und blaue Pilze haben ihm Ohren
angehängt, rote Schmarotzerpflanzen haben ihn mit Rubinen besät, andere träge
Pflanzen haben ihm ihre Bärte geliehen, und blitzschnell schießt aus seinen
morschen Eingeweiden eine Schlange hervor wie ein Geist, als entweiche dem toten
Stamm die Seele ... (...) Hoch oben, wie Pulsadertropfen des zauberischen Urwalds,
schwingen die roten Schlingpflanzen ... Die rote Schlingpflanze (Lapageria R¢sea)
ist die Blume des Bluts, die weiße Schlingpflanze ist die Blume des Schnees ... Mit
einem Zittern der Blätter durchbrach die Geschwindigkeit eines Fuchses die Stille,
doch die Stille ist das Gesetz dieses Blätterreichs ... Nur der ferne Schrei eines
verstörten Tiers ... Der durchdringende Zwischenruf eines verborgenen Vogels ...
Die Pflanzenwelt murmelt nur, bis ein Gewitter alle irdische Musik zum tönen
bringt.
Wer den chilenischen Wald nicht kennt, kennt diesen Planeten nicht.
Von dieser Erde, diesem Lehm, von dieser Stille bin ich ausgezogen, um zu singen
für die Welt.
PABLO NERUDA
(Ich bekenne, ich habe gelebt. Neuwied 1977, S. 9. (Die Lücken... sind aus dem
Originaltext. Die Lücke (...) bezeichnet eine Textauslassung des Verfassers.)
Ästhetik (griech. aistetike: "die die Sinne betreffende Wissenschaft"), Lehre vom Schönen -
nirgends scheint mir der Gegenstand dieser Wissenschaft deutlicher vorhanden als in obigem
Text. Was sind die Menschen, wenn es einem von Ihnen gelingt seine Welt so 'wahr', d.h.
ziel- und interessenlos - dichte Momentaufnahmen nahe der Poesie japanischer Haikus - und
gleichzeitig so leidenschaftlich vielfältig zu beschreiben, was die Sprache, die ihm dies
ermöglicht? Welcher Art ist 'die Erde', welcher Art 'die Stille', die einen solchen Gesang,
eine solche kulturelle Gestaltung einer paradiesische Einheit mit der Natur hervorbringt?
Ist dies ein besonderes 'impressives und expressives Anderssein' an dessen
EIGENartigen Produkten es uns vergönnt ist teilzuhaben? Wie aber wäre diese Teilhabe dann
möglich, wenn doch diese Welt eine so einzige ist? Ist es 'der Lehm', die Natur, ein intuitiv
erfahrbarer Urgrund (Mutter Erde, Gaia) der uns verbindet? Wenn aber dieser Grund
gegeben ist, warum mißlingt dann so oft die Verständigung? Und wie wäre dann dieser frei
gleitende Blick NERUDAs, frei von gesetzten Bezügen zu verstehen? Wenn diese aber nicht
vorhanden sind woher nimmt er das Material für sein so ungeheuer farbenreiches und
plastisches Bild?
Das Thema Ästhetik gewinnt heute im Zusammenhang mit Überlegungen zum
Zusammenleben mit Menschen, denen Behinderungen zugesprochen werden, mehrfache
Bedeutung.
Zum Einen scheint die Möglichkeit der musischen oder - weitergehend - der ästhetischen Erziehung das pädagogische Mittel der Wahl bei Menschen mit Beeinträchtigungen,
die diesen die, in der Leistungsgesellschaft erwartete, Produktivität unmöglich machen
('Arbeitskraft minderer Güte'). Der mögliche ästhetische Ausdruck ersetzt das
'normalerweise' erwartete nützliche Produkt. Darüberhinaus: über Geschmack läßt sich nicht
streiten; wo kein Urteil ist, da ist auch kein Verurteilen möglich; wo nicht gestritten wird, da
findet auch kein Normenvergleich statt. Es zeigt sich also hier scheinbar ein Refugium, das
Menschen mit Behinderungen aus der direkten Konfrontation mit der 'Normalität'
herausnimmt, ohne sie institutionell abzusondern. Die Realität sieht dann allerdings anders
aus. Der ästhetische Ausdruck findet in der Regel im 'kleinen Kreis' einer speziellen
Institution statt. Gezeigt, ausgestellt, vorgeführt werden dann doch in der Regel nur die
Produkte (sic!) die der konventionellen Ästhetik konsumierbar sind. (Auch THEUNISSEN
warnt ausdrücklich davor, diese durch die Konzentration auf die Spitzenleistungen weniger
zu einer Ideologie verkommen zu lassen.
Dies verweist auf den zweiten wichtigen Bereich der Relevanz des Themas, nämlich
den der herrschenden ästhetischen Orientierungen insbesondere im Hinblick auf das
Selbstbild der Menschen und der Rolle, die beeinträchtigte Menschen hierbei spielen. Die
goethesche Konstitution von Kunst im 'Wahren, Schönen, Guten' macht die Problematik
dieser Zusammenhänge sehr deutlich. So verweist die konventionelle Vorstellung von
Schönheit eben auf das, was konventionell in dieser Zeit als gut und im Sinne des
Menschenbildes als wahr angesehen ist: bedingungslose Selbstorganisationsfähigkeit, d.h. für
den menschlichen Körper ein nach heutigen Maßstäben gesunder, schlanker, 'fitter' Körper:
Mann: männlich-weich, Frau: Kindchen-Schema. Schrammen, Falten Zeichen gelebten
Lebens, von Vergangenheit und Zukunft stören die Zeitlosigkeit dieser Bilder des Hier-und-
jetzt. Gleiches gilt für die psychische Verfassung. Annähernd jegliche Form der
Selbstdarstellung wird - unkommentiert - akzeptiert, solange diese von der Genußfähigkeit
dieses Menschen, eben seiner/ihrer Selbst-Ständigkeit in der 'Erlebnisgesellschaft' (Vgl.: G.
SCHULZ: "Erlebnisgesellschaft" - Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1992.)
kündet, einen Anspruch an Andere unterläßt.
Abgesichert wird dieses Bild des Menschen in der Welt - ein Bild, das in dem Bild
vom Paradies dazumal eine künstlerische Form hatte, jetzt aber als 'Natur der Menschen' im
wörtlichen Sinne zu realisieren versucht wird - von der Seite der Gesellschaft her durch die
Bereitstellung aller nur denkbarer Güter, so wie durch die These, die körperlichen Voraussetzungen für ein ungetrübtes Genießen ebenfalls herstellen zu können (Stichwort: Gentechnik).
Es gibt keine irgendwie gearteten kulturellen Schranken - wenn auch häufig pekuniäre -
etwas nicht zu konsumieren.
Dieses Bild überdeckt die Tatsache, daß diese 'Erlebnisgesellschaft' auch als
'Risikogesellschaft'(Vgl.: U. BECK: "Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere
Modern". Frankfurt a.M. 1986.) gelesen werden kann, menschliche Ordnungen generell(s.u.),
heute aber im Besonderen, bedroht sind. In letzter Konsequenz kann man eben nicht darauf
vertrauen, daß alle Bedürfnisse in jedem Moment auch gestillt werden können. Selbst die
einfachsten Bedürfnisbefriedigungen sind darüberhinaus in der Regel auf die Zuneigung
anderer angewiesen, worauf man aber wiederum nicht sicher bauen kann.
In dieser Welt wird das oben beschriebene Bild vom autonomen Menschen, der
seinen spontanen, ästhetischen und körperlichen Bedürfnissen zugeneigt durchs Leben geht,
merkwürdig schemenhaft. So zeigt dieser Mensch zwar eine große Akzeptanz gegenüber
anderen, ohne allerdings mitdiesen in näheren Kontakt zu treten. Ein Kontakt findet nur an
den Punkten, an denen sich die verschiedenen Interessen synchronisieren, statt.
Dieses Menschenbild, das außer der eigenen Existenz und der dort vorfindlichen
Befindlichkeiten keinen anderen Wert kennt, ist ein Bild, das nur existieren kann, wenn der
Bedarf in geradezu pränataler Weise gesichert ist. In einer derartig individuellen Welt
erscheint das Leben eigentlich nur dann sicher, wenn diese durch höchste Ordnungen,
stereotype und ritualisierte Abläufe abgesichert ist. Das bedeutet, daß die Signale, der
Selbstdarstellung immer wieder in derselben deutlich unveränderten Form gesendet werden
müssen, das bedeutet, immer wieder in denselben Kleidern aufzutreten - oder in ständig
neuen, was ebenso uniform ist - und nur mit Menschen umzugehen, die in ihren
Orientierungen synchron sind. Lücken in der Versorgung bedeuten hier für die Menschen,
den Zusammenbruch der Selbstreferenz! Eine solche Haltung kann sich, als die Kultur
kennzeichnend, nur eine Gesellschaft zu eigen machen, die wirtschaftlich stark genug ist,
eine so weitgehende Versorgung so großer Teile der Bevölkerung zu ermöglichen, daß diese
Übereinkunft nicht zusammenbricht. Die Bedingung hierfür ist allerdings, daß von den
Menschen keinerlei Störung wahrgenommen werden. D.h. es geht nicht nur um das Stillen
des biologisch notwendigen Bedarfs, sondern um das möglichst weitgehende Beseitigen
jeglicher Differenzerfahrungen, da diese sofort die Frage nach der Begründung der Differenz
und damit die Grundlage der Frage nach der Existenz der Menschen hervorrufen würde.
Diese Situation, eine dauerhafte Versorgung zu leben, führt aber andererseits dazu -
daß die Unfähigkeit immer größer wird, mit Mangelsituationen fertig zu werde, denn dazu
bräuchte es etwas, das jenseits des konkret vorhandenen Mangels Sicherheit vermittelt.
Aus dieser drogenhaften Abhängigkeit von der Halluzination, sich von allen
Unsicherheiten freimachen zu können, lebt unsere Kultur. Es gilt also zum Erhalt dieser
Situation den Sprachraum mit Konnotationen von Beschwerdelosigkeit, Schutz und
lebendiger Körperlichkeit zu füllen, deren Klang in alle Dinge des Alltags einzuschreiben.
Das Wort 'leicht' hat sich dabei als am durchsetzungsfähigsten erwiesen. Ausgehend von der
Bezeichnung für kalorienreduzierte Produkte bündelt es heute einen Zeitgeist, dem gegenüber
die tatsächlichen Probleme dieser Zeit um so lähmender wirken.
Wie weit dieses Verbot der Konstitution eines bedeutenden Sprachraumes mit Hilfe der Konnotationen
des 'light age' geht, macht der folgende Werbetext für ein Mineralwasser überdeutlich.
Ich liebe Dich, Diana,
Du bist so herrlich leicht und unbeschwert.
Du erfreust meine Sinne mit der belebenden Frische Deiner Mineralien.
Dein sanftes Prickeln ist eine Wohltat für mich.
Du kommst aus der schützenden Tiefe des Taunus,
oh wunderbar leichte Tochter des großen Roßbachers.
Roßbacher Diana Leichtes.
Lieber leichter genießen, lieber bewußter leben.
Nicht nur, daß hier fast alle angeführten Aspekte der metaphorischen Abwehr von Differenz benutzt
sind, es wird zusätzlich auch noch das Wort 'bewußt', das ja gerade für Reflexivität und
damit für die Exzentrik der Differenz steht, von dem Dogma der allgegenwärtigen Identität im
Genießen okkupiert. Das Schicksal 'Schwerbehinderte' wirkt dagegen auf Menschen dieser Zeit im
wortwörtlichen Sinne ent-täuschend.
Angesichts eines Menschen mit Behinderungen hat ein Mensch dieser Zeit eigentlich nur zwei Möglichkeiten, sich zu
verhalten: entweder er gibt seine rein hedonistische Selbstreferenz auf und schafft so etwas
wie eine gemeinsame Kultur oder aber er schafft den Anlaß seiner Verunsicherung aus
seinem Erfahrungsfeld. Ein Mensch, der für sich auf permanente Bedürfnisbefriedigung aus
ist, muß glauben, daß der Behinderte unendlich leidet; er muß ein solch großes Mitleid mit
ihm entwickeln, daß er am Ende zu der selben Lösung kommt wie der Mensch, der aus
Nützlichkeitserwägungen sagt: weg mit dem!
Es wird deutlich, 'Behinderte' stellen in der konventionellen Welt eingroßes
ästhetisches Problem dar:
# Sie sind im Sinne der Leistungsgesellschaft nicht produktiv.
# Sie sind evtl. zu keinerlei künstlerisch akzeptiertem Ausdruck fähig.
# Ihr Äußeres entspricht oft nicht den Normen von Gesundheit und Fittness.
# Sie sind nicht ohne weiteres erlebnis- bzw. genußfähig.
# Sie entlarven das herrschende Menschenbild als inhuman und gefährden so das Selbstverständnis der Menschen.
Bevor ich versuche, dem hier anskizzierten Menschenbild des heutigen Zeitgeistes ein
eigenes Menschenbild an die Seite zu stellen, möchte ich auf der Basis der bisherigen
Ausführungen noch kurz auf das diesen zu Grunde liegende Verständnis von 'Ästhetik'
hinweisen. Sehen wir an dieser Stelle von Überlegungen zur Ästhetik in der Natur ab, der
Bewunderung der Vollkommenheit ihrer Gesetze - die Übersieht, daß gerade das Hinschauen
unterdem Aspekt dieses Gesetzes die wahrgenommene Harmonie selbst erzeugt und die ein
weiteres Mal erschüttert wird durch neuere Erkenntnisse der Theorie komplexer Systeme und
der fraktalen Mathematik, daß das Gesetz der Natur weniger in der vollkommenen Gleichheit
als in der berauschend vielfältigen Ähnlichkeit aufscheint -, so bleibt der Bereich der
ästhetischen Wahrnehmung.
Die ästhetische Wahrnehmung, das Be-Merken eines Dings, eines Vorgangs eines
Menschen, einer Erfahrung als 'schön' hat keinen weiteren 'Sinn' als eben diese Wahrnehmung(Sie entsprich auf einem entwickelten Niveau dem Abbildnveau der perzeptiven
Tätigkeit nach Wolfgang Jantzen (vgl.: "Behindertenpädagogik". Bd. I, Weinheim 1987, S.
198 ff).). Jegliche Form eines darüberhinausgehenden Motivs zerstört diese Qualität.
'Schönheit', so gesehen, ist im wörtlichen Sinne ein bewegender Ein-Druck, ein Informationsfluß der sich in der Erfahrung selbst organisiert, wie dies an Nerudas Text sehr deutlich
wurde. In gewisser Weise verkehren sich im Moment der Schau Subjekt und Objekt. (So gilt
es in der Werbung eben einen solchen Eindruck zu generieren, der nicht das Produkt in
seiner Nützlichkeit beschreibt, sondern einen intensiven Eindruck mit dem Produkt verbindet,
der nichts mit eben diesem Produkt zu tun hat. Die Wiederholung dieses Eindrucks wird
gesucht und das Produkt en passant gekauft.) Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen
erschließt sich das Ästhetische als ein außerordentlicher Motor hinter der
Orientierungstätigkeit der Menschen. Dabei muß allerdings festgestellt werden, daß das was
in dieser Weise als schön angesehen wird bis zu sexuell bedeutsamen Eindrücken hin,
Moden unterliegt, den Menschen also nicht naturhaft eigen ist. Diese Aussage nimmt in der
hier zum Ausdruck kommenden Unbestimmtheit des Menschen die zentrale Kategorie des
hier alternativ entworfenen Menschenbildes vorweg.
Unbestimmtheit, das Kennzeichen des Menschen
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist eine Aussage über den Menschen, die zwar häufig
gemacht, in ihrer Bedeutung aber unterschätzt wird: die Feststellung, daß der Mensch als
Kennzeichen seines Menschseins ein frühgeborenes Tier ist. Diese Bedingung des Menschen,
gattungsspezifisch eine physiologische Frühgeburt zu sein, hat für die folgenden
Überlegungen zentrale Bedeutung.
Der Mensch wird im Vergleich zu ihm nahestehenden Menschenaffen um ca.
9 Monate zu früh geboren, d.h. um einen entsprechenden physiologischen Reifegrad zum
Zeitpunkt der Geburt zu besitzen wie Schimpansen oder Gorillas müßte die Schwangerschaft
beim Menschen ca. 18 Monate betragen (Vgl.: MONTAGU 1980, S. 36 ff.). Dies ist aber
physiologisch, vor allem auf Grund des noch rapide wachsenden Kopfes nicht möglich. Die
Frühgeburtlichkeit ist damit Gattungsschicksal. Welche Folgen ergeben sich aus dieser
Annahme.
Wir wissen heute, daß sich lebende Organismen immer in Koppelung an ihre
Umwelt entwickeln, daß ihre Physiologie - das gilt selbst für Einzeller - nie nur genetisch
determiniert ist. Während die genetische Ausstattung eine Disposition, eine Potenz darstellt,
realisiert sich diese erst im Austausch mit der Umwelt. Dabei haben häufig benutzte
Strukturen und Muster im neuronalen System die Tendenz ihre Funktion zu optimieren, bis
hin zu realem Nervenwachstum entlang der verwendeten Bahnen; nicht verwendete
Strukturen verkümmern. Dieses konnte an Hand von Tierversuchen überzeugend nachgewiesen werden. (Vgl.: PICKENHAIN 1989, S. 376 f)
Dieses Verfahren der Natur, nicht jedes Detail eines Organismus materiell
festzulegen, sondern diesem eine Anpassung an die Umwelt zu ermöglichen, macht die zum
Überleben in einer sich ständig ändernden Welt notwendige Flexibilität lebendiger
Organismen aus. Darüberhinaus entlastet dieses Verfahren die Informationsweitergabe, die
sich nur noch auf Grundparameter des jeweiligen Organismus beziehen muß.
Bedenken wir diese außerordentliche Flexibilität und Prägbarkeit, die es schon Tiere
ermöglicht, Individualität im Zuge der je eigenen Erfahrungen zu bilden, so wird klar, daß
dies für eine Gattung, die als Gattung eine physiologische Frühgeburt darstellt, in extremem
Maße gültig ist.
Während das intrauterine oder vorgeburtliche Stadium der Entwicklung des menschlichen Organismus zwar nicht genetisch eindeutig bestimmt ist, aber dennoch dominierend
biologischen Charakter hat, stellt die nachgeburtliche Welt im Falle der Menschen eine im
wesentlichen soziale Welt dar, in die der Mensch in einem im Vergleich zu Tieren außerordentlich unreifen, unbestimmten und damit prägbaren Stadium hineingeboren wird.
"Der unterscheidende Charakter der menschlichen Natur ist die Unbestimmtheit,
oder die Nichteinschränkung auf einen besonderen Trieb, oder auf eine bestimmte
Fähigkeit und Fertigkeit.
Dieser negative Vorzug des Menschen ist die Quelle aller obigen Vollkommenheiten." (TRAPP 1780(!), Abschn. 6, S.12.)
So ist der Erwerb der Lebensmittel bei den Menschen nicht mehr ein sozialer Vorgang mit,
im Kern, fixen Inhalten wie das Jagen bei Tieren, sondern der Erwerb der Lebensmittel ist
als institutionalisiert geregelter Vorgang im wesentlichen über vorangegangene Entscheidungen im Bereich der Sprache bestimmt. Selbst die Produktion und Aufzucht der Nachkommen
ist in Form der verschiedenen familiären Entwürfe und Erziehungsvorstellungen in den
verschiedenen Kulturen institutionell geregelt.
Die sozialen, kulturellen oder gesellschaftlichen Bedingungen prägen damit in jedem
Fall die biologische Struktur der Menschen. Keine wie auch immer geartete schwere
Behinderung kann diese Notwendigkeit für jeden Menschen seine Entwicklung nur im sozialkulturellen Zusammenhang mit anderen Menschen realisieren zu können beseitigen. - Etwas
was fehlt - Bestimmung, Instinkt - kann man nicht verlieren. Menschen sind so gesehen
immer in den mitmenschlich kulturellen Zusammenhang eingebunden, sie sind, wie es
MATURANA/VARELA ausdrücken 'In-der-Sprache', auch wenn sie nicht sprechen,
scheinbar nicht einmal kommunizieren. Sprache entsteht, so gesehen, am Ohr des Hörers
und nicht im Sprecher(!).
Sprache ist also der Bereich, in dem Menschen sich, als Ersatz für die fehlende
biologisch Bestimmung - die Instinkte -, ihre je individuellen Deutungen der Welt, die durch
ihr je individuelles Schicksal entstanden sind, gegenseitig zur Verfügung stellen, indem sie
mit ihrem Tun den Dingen Bedeutung verleihen - ein Prozeß in dem sich auch die
Möglichkeit ästhetischer Wahrnehmung erst bildet.
So beschreibt Pablo Neruda eine Szene aus seiner Kinderzeit mit einem
Eisenbahnarbeiter, der ihm aus dem Urwald einen Laufkäfer mitbrachte: "... Einer
von ihnen hieß Mönch. Meinem Vater zufolge ein gefährlicher Messerstecher. Sein
dunkelhäutiges Gesicht wies zwei lange Furchen auf. Die eine war die senkrechte
Narbe eines Messerstichs, die andere sein helles waagrechtes Lächeln voller
Leutseligkeit und Hinterlist. Dieser Mönch brachte mir weiße Schlingpflanzen,
behaarte Spinnen, Ringeltaubenjunge, und einmal entdeckte er für mich das
Erstaunlichste, den Käfer des Coihue- und des Lumabaumes. Ich weiß nicht ob ihr
ihn jemals gesehen habt. Ich hab ihn nur damals gesehen. Er war ein Blitz im
Regenbogenkleid. Das Rot und Violett und Gründ und Gelb blendete von seinen
Deckflügeln. Wie Blitz entwischte er meinen Händen und entschwebte in den
Urwald. Und Mönch war nicht mehr da, um ihn wieder einzufangen. Nie hat mich
jene betörende Erscheinung verlassen. Und nie habe ich jenen Freund vergessen. ...
"(Pablo Neruda S. 12.)
Es zeigt sich hier, das Ästhetische wird nicht im Sinne einer Information mitgeteilt. Aber die
Erscheinung des Käfers und der Freund bilden dennoch eine Einheit, das Bild bleibt an
diesen Ort in der gemeinsamen Zeit gebunden. Hier zeigt sich, was mit dem Begriff 'In-der-
Sprache-sein' bei MATURANA/VARELA gemeint ist.
Zu einem sprachlichen Ausdruck (nicht sprechend) wird eine Tätigkeit, wenn sie
auf andere Menschen Wirkung hat, die Tätigkeit damit als bedeutungsvoll angesehen werden
kann. (Es ist also umgekehrt durchaus möglich, daß Menschen sprechen, aber in diesem
Sinne im Bereich der Sprache keine Rolle spielen, da sie nicht gehört werden.) Warum ist
dieser Austausch von Bedeutungen so außerordentlich wichtig?
Eine der wesentlichen Funktionen des Zentralnervensystems bildet die Wahrnehmungsverarbeitung. Diese ist vor allem gekennzeichnet durch eine hocheffektive
Reizreduktion, da aus der Peripherie pro Sekunde ca. 10 Milliarden Reize auf das Gehirn
einströmen, der Bereich der bewußten Wahrnehmung aber nur ca. 15 - 20 Reize verarbeiten
kann.
Die Reizreduktion geschieht dabei nicht, wie bei einem einfachen Filter, durch
Zurückhalten von einem Teil und Durchlassen von einem anderen Teil der Reize, sondern
durch die Bündelung der Informationen im Sinne der Superzeichenbildung (Vgl. hierzu:
SIEVERS 1982, S. 57 ff.). Hierbei geht die ursprünglichen Informationen nicht verloren
sondern wird in dem entstandenen Superzeichen - oder der Gestalt - aufgehoben.
Dieser Reduktionsprozeß bildet die Grundlage unserer jeweiligen Weltkonstruktionen. Vergegenwärtigt man sich, daß dem Nervensystem in jeder Sekunde 10
Milliarden Informationen zur Verfügung stehen, wird deutlich wieviele VERSCHIEDENEN
Bündel aus dem selben (!) Informationsangebot geformt werden können, welche unendliche
Fülle verschiedener Konstruktionsmöglichkeiten, die sich uns in jeder Sekunde 10
milliardenfach mitteilende Welt beinhaltet. Das Kriterium für die Art der Bündelung ergibt
sich in jedem Fall aus dem schon vorhandenen Material.
"Du kannst an keiner Stelle mit Eins beginnen" (KÜCKELHAUS 1981, S. 40);
"Alles Gesagte ist von jemandem gesagt" (MATURANA/VARELA 1987, S. 32)
Jede neue Strukturierung der Welt kann immer nur bezogen auf bekannte Strukturen
erfolgen. Die Menge und Art der vorhandenen Bündel bestimmt damit die Konstruktion
unserer Welt, die anderen Menschen, mit denen wir in Kontakt treten als unsere Persönlichkeit erscheint.
Gelänge es einem Menschen nicht, trotz seiner Unbestimmtheit grundlegende
Bündel aufzubauen, so würde das Gehirn dieses Menschen in jeder Sekunde von
10 Milliarden unspezifischen einzelnen Reizen bedrängt. Diese wären nicht zu verarbeiten.
Ein so strukturiertes Nervensystem würde sofort zusammenbrechen. Erst die Gewichtungen
der Informationen, unsere Strukturgebung im beschriebenen Sinn macht uns überhaupt erst
wahrnehmungsfähig.
Menschen sind damit bei ihrer Weltkonstruktion, d.h. der Auswahl der jeweils
wesentlichen Reizkonfigurationen, auf an sie von anderen Menschen herangetragene
bedeutungsvolle Zusammenhänge, Orientierungen ... eben auf das 'In-der-Sprache-sein'
angewiesen. Diese Abhängigkeit ist so grundlegend, daß MATURANA und VARELA in
Anlehnung an die Tropholaxis von Insekten, bei denen über gegenseitiges Füttern lebensund gattungserhaltende Informationen ausgetauscht werden, von einer 'Linguolaxis' bei
Menschen sprechen: Menschen füttern sich gleichsam mit symbolischen Deutungen der Welt
(MATURANA/VARELA 1987, S. 202 ff.).
Hier ist ein Mißverständnis möglich: Diese Aussage heißt NICHT, daß diese
Informationen von den Menschen denen gegenüber sie geäußert werden, direkt, in der
gleichen Weise gespeichert würden, d.h. daß Menschen durch diese basalen Informationen,
Zusammenhänge, Regeln ... praktisch programmierbar wären. Natürlich kommt es immer zu
einer je eigenen Abbildung der gegebenen Information im wahrnehmenden System - wie dies
auch an dem Text NERUDAs deutlich wurde. Die "Nahrung" Sprache wird sozusagen verdaut. Lebensnotwendig ist aber in jedem Fall, daß sich andere Menschen mit ihren Regeln,
Deutungen ... an diesen Menschen richten.
Dies gilt nicht nur für die (Um-)Welt des Kindes sondern auch für sein Selbstbild
innerhalb der sozialen Gruppe. Allein dadurch, daß dem Kind eine soziale Umwelt geboten
wird bevor es von sich das Bewußtsein eines Subjekts im kulturellen Sinn hat, daß ihm
Tätigkeiten im sozialen Raum ermöglicht werden bevor es von diesen ein Bewußtsein hat,
kann es dem Kind gelingen, seine kulturelle Kraft zu erfahren und so das Gesamt dieser
Möglichkeiten als sein Selbst anzueignen, also Selbstbewußtsein zu entwickeln.
An diesem Beispiel wird die spezifische Doppelnatur menschlicher Existenz, die
eben nicht in biologische Existenz und soziale Existenz aufspaltbar ist, sehr deutlich. Obwohl
sich die erste Begegnung des Kindes mit seiner mitmenschlichen Umwelt auf Reflexe die für
sich genommen biologische Vorgänge sind aufbaut, benötigen diese, um zu einem
erfolgreichen Ergebnis zu kommen, eine Antwort die außerhalb der Reflexhandlung liegt
und die aus dem sozial/kulturellen Bereich kommt. Damit ist diese Handlung aber von
Anfang an auch 'In-der-Sprache': eine kulturelle Leistung!
Hier wird auch deutlich, daß die Geburt eines jeden Menschen, wie schwer
beeinträchtigt auch immer, diesen zu einem möglichen kulturellen Subjekt, d.h. zu einem
Sprecher, einer Sprecherin macht, sind Menschen in seiner Umwelt vorhanden, die bereit
sind ihn zu hören, sich von ihm beeindrucken, verändern zu lassen. So gesehen bildet jedes
Begegnen von Menschen Kultur und dient damit der Erweiterung der kulturtechnischen
Möglichkeiten wie auch der ästhetischen Wahrnehmungsfähigkeit aller Beteiligten.
Das hier geforderte "Hören" ist allerdings, genau betrachtet, nicht unproblematisch,
birgt dieses doch immer auch Überraschungen. Ohne einen neuen Anteil in der Mitteilung
könnte man ohne Verlust auch schweigen. Bedeutungsvolles Sprechen schließt damit für den
Hörer immer einen Kern von Fremdheit mit ein, und dieses Fremde muß zugelassen werden.
Wenn dieses Fremde nicht zugelassen wird, dann trifft die Sprache nicht, geht ins Leere,
beeindruckt nicht, drückt sich nicht im Anderen ab.
Dieser Prozeß, sich fremden Kulturen bis hin zu der Gruppe, die man 'schwerstbehindert' nennt, zu öffnen, wird damit zur Grundlage menschlicher Kulturentwicklung,
individuell wie für die ganze Gesellschaften. Kommt diese Bereitschaft zum Erliegen,
werden Sprache und Kultur zerstört. Umso katastrophaler wirkt das eingangs beschriebenen
rein selbstbezogene Menschenbild mit seinem zunehmenden Verlust der Fähigkeit Neues
bzw. Fremdes zu integrieren.
Das Mensch-sein aushalten, das Mensch-sein nutzen
Diese Überlegungen zeigen den Menschen der unaufhebbaren Spannung einer Paradoxie ausgesetzt, nämlich die Chance der Unbestimmtheit im Sinne der individuellen Freiheit nur
nützen zu können, wenn in seinem Umfeld Bestimmungsfaktoren wie Wünsche,
Erwartungen, Regeln, Umgangsformen ... vorhanden sind. Eine Orientierung an 'Ganzheit'
hat dieses zu berücksichtigen, sie hat die angesprochene 'Verwerfung' im Kern der
menschlichen Existenz als Teil dieser Metapher zu integrieren. Eine reine Orientierung an
einer harmonischen 'Hier-und-jetzt-Befindlichkeit' als Reaktion auf eine rational 'verkopfte'
Umwelt verfehlt das Ziel der Gestaltung einer humanen Begegnung in gleicher Weise wie
diese.
Erst die Wünsche, die Erwartungen, die einem Menschen entgegengebracht werden,
die Pläne, die für ihn gemacht werden, geben diesem einen Orientierungsrahmen ab, dem
gegenüber er seine Setzungen, Prioritäten, Wünsche usw. realisieren kann. In dieser
Formulierung wird schon deutlich: die Vorstellungen und Wünsche, mit denen man einem
Menschen gegenübertritt, dürfen nicht exekutiert werden. Selbst die richtigste, sinnvollste
und humanste Vorstellung um die Zukunft eines Menschen braucht die vorweggenommene
Akzeptanz einer noch unbekannten Variante dieses Planes im Tätigwerden des Gegenübers.
Die prinzipielle Unmöglichkeit, andere Menschen mit Sicherheit beeinflussen zu können,
darf weder zum Einsatz von Machtmitteln zur Durchsetzung der Vorstellung, des Planes
noch zum Aufgeben des Wünschens führen. Dieser Zwang, contrafaktisch wünschen zu
müssen, schließt die notwendige Akzeptanz von Scheitern, Vergeblichkeit und Streit mit ein.
Dieses Ergebnis der hier entwickelten Überlegungen, Leiden, Mangel und Streit als eine
Grundlage der menschlichen Kultur und der menschlichen Entwicklung zu sehen, ist
Menschen mit Beeinträchtigungen sicher intuitiv einsichtig. Das heute übliche Menschenbild
dagegen, das Autonomie, Fitness, Jugend, Schönheit, Sorglosigkeit und individuelle
Schaffenskraft in den Mittelpunkt stellt, verfehlt diesen humanen Kern der Menschenwelt.
In der Arbeit mit beeinträchtigten Menschen gilt es also unter allen Umständen, den
hier entwickelten Gedanken Rechnung zu tragen und jedem Einzelnen einen Platz in der
Sprache zu ermöglichen. Es gilt die Chance zu ergreifen, die Arbeit mit beeinträchtigten
Menschen zu einer gemeinsamen Kulturentwicklung fortzuentwickeln, indem man jedem
auch seine Momente von Fremdheit, Eigensinn und Geheimnis läßt, ohne sie in einer unverbindlichen unendlichen Akzeptanz 'links liegen zu lassen'. In Folge eines solchen
Wachstums der gemeinsam Handelnden entlang der gegenseitigen Zumutung wirklicher
Begegnung sollte es dann auch zunehmend möglich sein, mit dieser und durch diese Kultur
solidarisch, diese Art der Arbeit nach außen zu tragen in den Bereich der allgemeinen
Pädagogik hinein.
Es gilt so auch nicht-beeinträchtigte Personen dazu zu verführen, das Risiko echter
Begegnungen auf sich zu nehmen und die Chance, die hierin liegt zu entdecken. So entsteht
als oberstes Ziel allen Unterrichtens, für Pädagogik überhaupt, den Mut, die Bereitschaft und
die Fähigkeit der Schüler zu entwickeln, Neues und Fremdes zuzulassen. Ein Unterricht, der
sich alleine auf die vom Lehrer gewährleistete "kleinstschrittige" Wissensvermittlung stützt
verfehlt dieses Ziel. Erst wenn den Schülern die Möglichkeit gegeben wird, sich die
Gegenstände des Unterrichts gemeinsam forschend und d.h. problembehaftet und zeitintensiv
anzueignen und darüberhinaus in der Auswahl der Gegenstände solche von kulturellsprachlichem Wert eine hohe Bedeutung gewinnen, wird eine Entwicklung der Schüler im
Sinne dieses Paradigmas, das Ablegen von Fremdenangst oder -haß wie die Möglichkeit
selbst mit Menschen mit schwersten Behinderungen in Kontakt zu treten, wahrscheinlich.
Hier spielt nun die musisch/ästhetisch Erziehung - und damit schließt sich der Kreis
der Überlegungen - eine besondere Rolle, ist sie doch im Zentrum der Sprache, wie sie hier
dargelegt wurde (NICHT des Sprechens!) anzusiedeln. Diese bildet so den 'Behinderten'
nicht wieder einen Sonderbereich sondern eine Plattform für eine Gemeinschaft zur
Entwicklung ihrer gemeinsamen Sprache.
Dabei gilt es zum einen nicht mehr zwischen formal-kognitiven Inhalten der
Begegnung und ästhetischen zu Unterscheiden. Es gilt im Gegenteil erstere auf ihre
lebendige, und das heißt bedeutungsvolle Basis hinzuentwickeln. Ein exemplarisches Beispiel
bildet hierfür die Physikdidaktik von WAGENSCHEIN (vgl. WAGENSCHEIN, M.: "Die
pädagogische Dimension der Physik". Braunschweig, 1962). Hier werden formelle
Beschreibungen der Natur als das genommen, was sie von den hier vorgelegten
Überlegungen aus sind, nämlich ebenfalls ästhetische Urteile für die - sichere - Verengung
des Blicks auf lineare Verhältnisse. Diesen werden die vielfältigen Erklärungen der Naturphänomene von Kindern gegenübergestellt, die sich ganz offensichtlich auf der Suche nach
Bedeutungen hinter der anschaulichen Welt der Phänomene befinden.
Zum anderen gilt es, den ästhetischen Bereich als nicht nur individuell, sondern als
gemeinsamen Begegnungsraum zu entwickeln. Erst die Auseinandersetzung um ästhetische
Darstellungen läßt diese als Eindruck im Anderen und damit als Werk für den Künstler
wirklich werden. Eine immerwährende Affirmation ohne jeden eigenen Kommentar des
Betrachters dagegen wirft den Künstler in eine Einsamkeit zurück der der Ausdruck seiner
Präsentation ja ganz offensichtlich zu entfliehen sucht.
Gelingen Prozesse im beschriebenen Sinne so ist dies nicht nur ein Beitrag, die
Wahrscheinlichkeit von Angriffen auf Behinderte zu reduzieren indem die Fremdheit dieser
Menschen in der Gesellschaft reduziert wird, sondern die, in der Auseinandersetzung um ein
Leben mit Beeinträchtigungen entstandene, Kultur kann für die anderen Menschen zum
Anlaß werden, ihre Kunstwelt im oben beschriebenen Sinne aufzugeben und so von
Menschen mit Beeinträchtigungen wirklich zu lernen. Behinderte würden so in die Lage
versetzt, ihre Kultur mitzuteilen, wirklich 'etwas zu sagen zu haben'.
SADE
Und der Tod besteht nur in der Einbildung
nur wir stellen ihn uns vor
die Natur kennt ihn nicht
Jeder Tod auch der grausamste ertrinkt in der völligen Gleichgültigkeit der Natur
Nur wir verleihen unserem Leben irgendeinen Wert
Die Natur würde schweigend zusehen
rotteten wir unsere ganze Rasse aus
MARAT
Gegen das Schweigen der Natur
stelle ich eine Tätigkeit
In der großen Gleichgültigkeit
erfinde ich einen Sinn
Anstatt reglos zuzusehn
greife ich ein
und ernenne gewisse Dinge für falsch
und arbeite daran sie zu verändern und zu verbessern
wirst du auch strahlen aus freude wenn ich sein werde wie die anderen
BIRGER SELLIN (3.11.91)
LITERATUR:
BECK, U.: "Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere Moderne". Frankfurt a.M.,
1986.
JANTZEN, W.: "Allgemeine Behindertenpädagogik" Bd. 1. Weinheim, 1987.
KÜKELHAUS, H.: "Du kannst an keiner Stelle mit eins beginnen". Zürich, 1981
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Peter Rödler
BEHINDERTE in Familie, Schule und Gesellschaft, Heft 5/94
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