Was tun wir da eigentlich?

Heilsame Pädagogik? - Integrieren durch 'Sonderbehandlung'? - Besonderung durch Förderung? - Besondere Förderung durch oder trotz Integration?



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Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Sonderpädagogik, Sonderschulpädagogik, Heilpädagogik, Integrationspädagogik, Behindertenpädagogik, Orthopädagogik, Rehabilitationspädagogik ... die Suche nach einem neuen Namen für den Verband, eine zur Zeit der Verpackungsgesellschaft, der 'medialen Kommunizierung' von Produkten scheinbar relativ einfach zu bewältigende Frage der Außendarstellung - man lese die von PR-Beratern geschriebenen Ergüsse um die Neueinführung von Layouts, Logos ... bei anderen Verbänden -, führte im Umkreis der HV in Magdeburg beim vds, dem Vorstand wie den Mitgliedern sei's gedankt, zu einem Reflex auf unser Selbstverständnis, auf die Inhalte unserer Arbeit. Der Gegenstand unserer Arbeit beweist sich ein weiteres Mal als sperrig, als quer zu den schnellen Lösungen dieser Zeit. Ich möchte im Folgenden, als Beitrag zu dieser Diskussion, einige Überlegungen zu dieser Arbeit entwickeln. Dabei steht die Reflexion dieser Arbeit, das Herausarbeiten von deren Eigen-Art im Vordergrund meiner Überlegungen; die letztendliche Benennung bleibt zweitrangig. Beginnen wir mit einer Sammlung der vielfältigen Aspekte dieser Arbeit, wie sie aus den verschiedenen Benennungen erschlossen werden können. Diese erste Annäherung an das Thema dient dabei mit ihrem polarisierenden Vorgehen eben der möglichst deutlichen Vielfalt.

# Orthopädagogik (Ortho: gerade, aufrecht, richtig, recht) kann in verschiedener Weise gelesen werden. Zum einen als 'richtige' Pädagogik, womit die Frage entsteht, ob die im jeweiligen Arbeitsfeld ansonsten vorhandene Pädagogik dann als 'falsche' Pädagogik anzusehen ist.
Orthopädagogik könnte auch als die 'individuell rechte', im Sinne von 'angemessene' Pädagogik verstanden werden. Ein solches Verständnis würde allerdings entweder zur 'Sonderpädagogik' für bestimmte abgrenzbare Gruppen von Menschen, die in ihrem Wesen als 'Anders' bestimmt würden oder würde, bei der Betonung des individuellen Zugangs, mit der Konzentration auf Fragen wie das rechte Lernniveau oder die rechten Hilfen zur Orthodidaktik, bei Erhalt der Allgemeinen Pädagogik als Grundlage.
Als dritte Lesart besteht die Möglichkeit Orthopädagogik als eine 'ge'rechte Pädagogik zu entwickeln. Orthopädagogik wird so zu einer Pädagogik, die die Lage des Individuums in seiner Lebensumwelt berücksichtigt, und Behinderungen in diesen Wechselbezügen abbaut. Orthopädagogik würde so zu einer 'aufrichtenden' Pädagogik im Sinne der Lesart von Behindertenpädagogik, wie sie in der materialistischen Behindertenpädagogik etabliert wurde.
# Rehabilitationspädagogik (rehabilitieren: in die früheren (Ehren)Rechte wiedereinsetzen; aus habilitieren: geeignet, fähig machen) beinhaltet ebenfalls zwei Aspekte. In Verbindung mit der üblichen medizinischen Verwendung dieses Begriffes dominiert dabei aber die Konnotation der individuellen Förderung bzw. der 'Befähigung' die zweite Lesart dieses Begriffes, verstanden als Arbeit an und in der Lebensumwelt eines Menschen, um diesen (wieder) in seine Rechte zu setzen, d.h. ihm (wieder) eine Möglichkeit zu erschließen, sich auf der Basis einer unbehinderten sozialen Einbettung zu entwickeln.
# Behindertenpädagogik ermöglicht ebenfalls zwei sehr unterschiedliche Lesarten. Zum einen eine Pädagogik der Menschen, die auf Grund irgendwelcher individueller Eigenarten im Rahmen traditioneller Pädagogik als Behinderte erscheinen und damit eine besondere Pädagogik notwendig machen. So gesehen wird diese Pädagogik der Behinderten zur metatheoretischen Grundlage von Sonderpädagogik und Sonderschulpädagogik.
Zum anderen existiert hier die Lesart wie sie von der 'materialistischen Behindertenpädagogik' entwickelt wurde, die Behindertenpädagogik als eine allgemeine Pädagogik mit und für Menschen sieht, die durch unangemessene Verhaltensweisen in ihrem Lebens- und Lernumfeld behindert bzw. von diesem isoliert werden.
# Sonderpädagogik bezeichnet zum einen in extensiver Auslegung eine wirklich besondere Pädagogik gegenüber Gruppen von abgrenzbar 'anderen' Menschen. In dieser Lesart steht Sonderpädagogik in einem nahen Zusammenhang zur Sonderschulpädagogik, da diese als institutionalisierte Realisierung dieser Sonderpädagogik erscheint.
Zum anderen besteht die Möglichkeit einer intensiven Auslegung von Sonderpädagogik, nämlich diese als allgemeine Pädagogik zu versteht, die sich über einen besonderen Gegenstand, nämlich das Versagen traditioneller Pädagogik - aus welchen Gründen auch immer -, definiert. Ein solches Verständnis von Sonderpädagogik, von Pädagogik am Ort des Scheiterns wird im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen.
# Sonderschulpädagogik umreißt ein begrenztes und klar umrissenes Aufgabenfeld: die Pädagogik an einer gegebenen Schulform. Sonderschulpädagogik zeigt sich so im wesentlichen als Didaktik, wobei die Fragen der individuellen Wege in diese Schulform und der Probleme im Lebensumfeld im wesentlichen die Rolle von Lernvoraussetzungen spielen. Die Phänomene selbst sind nicht Gegenstand einer solchen Pädagogik.
# Heilpädagogik stellt die Frage nach dem 'Unheilen' einer pädagogischen Situation. Je nach dem Verständnis in dieser Frage stellt sich Heilpädagogik als eine das Individuum 'heilende' Pädagogik dar oder als eine, die auf 'unheile' Beziehungen eines Individuums so einwirkt, daß es in diesen Relationen seine Lebenswürde (wieder) finden kann. Das Ziel wäre hier eine - zumindest partikular - 'heile Welt'.
# Integrationspädagogik wird von der Bewegung für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern als Kampfbegriff gegen Sonderpädagogik, die mit Sonderschulpädagogik identifiziert wird gebraucht. Gefüllt ist der Begriff dabei im wesentlichen durch die Ablehnung von institutionellem Ausschluß als pädagogischer Maßnahme und seiner Begründung. Darüberhinaus ist dieser Begriff letztlich eher gefüllt mit den didaktischen Fragen des gemeinsamen Unterrichts - Fragen des Unterrichtens in Kooperation (Team-Teaching), lernzieldifferentes Unterrichten, die Möglichkeiten innerer Differenzierung, offener Unterrichtsmodelle. Integrationspädagogik bleibt so an das Konzept des gemeinsamen Unterrichts gebunden.
Es stellt sich hier allerdings die Frage, inwiefern unter diesem Gesichtspunkt nicht konsequenter von Allgemeiner Pädagogik zu sprechen wäre, die 'Integration' als eine bedeutsame Aufgabe mit einschließt. Dies würde deutlich machen, daß Integration ein - durch Ausschluß - entstehender (Teil-)Aufgabenbereich der allgemeinen Pädagogik ist, nicht aber ihr Wesen, da dieser Aufgabenbereich ja erst durch den vorangegangenen Ausschluß entsteht. Integrationspädagogik gibt diesem Aufgabengebiet dagegen einen die Pädagogik zentral definierenden Rang und macht auch sie damit zur Sonderpädagogik; jetzt nicht mehr für '... Behinderte' sondern für 'ZuIntegrierende', d.h. sie setzt das Scheitern eines pädagogischen Verhältnisses für ihre Existenz voraus, macht dieses aber nicht zu ihrem Gegenstand!
Die, jenseits dieser Reflexion auf das Scheitern, mögliche und ohne diese auch logisch konsequente Auflösung der Integrationspädagogik zur Allgemeinen Pädagogik hin macht es allerdings möglich Integrationspädagogik zur Legitimation aller anderer beschriebenen 'Sonderformen' von Pädagogik bis hin zur Sonderschulpädagogik zu vereinnahmen! Mit dem Verweis Sonder(schul)pädagogik sei eben 'nichts anderes als Pädagogik' und beinhalte wie jede Pädagogik natürlich die weitestgehende soziale Integration ihrer SchülerInnen als Ziel, würde es möglich zu argumentieren, dieses Ziel sei eben, nur unter den notwendig veränderten institutionellen Bedingungen (Sonderschulen ...) zu erreichen.

Am Ende unserer Zusammenstellung zeigt sich, daß auch das pädagogische Vorhaben der Integration ohne eine Beschreibung des Besonderen einer Pädagogik, die sich gegen Ausschlußprozesse richtet, nicht auskommt, will sie nicht zur politischen Gesinnungstat, zum stereotypen Reklamieren eines Ideals, das so zur Ideologie wird, verkommen. Die in diesem Zusammenhang genannten Begriffe zur pädagogischen Füllung des Vorhabens der Integration wie 'innere Differenzierung', 'Akzeptanz von Fremdem' und 'Selbstbestimmung' sind, jenseits einer pädagogischen Grundlage unverbunden nebeneinander stehend, erstens von Positionen der allgemeinen Pädagogik nicht zu unterscheiden und zweitens in unserem Kontext ausgesprochen problematisch. So begründet 'innere Differenzierung', wird sie nicht in der Form eines 'gemeinsamen Gegenstandes' organisiert, häufig und intensiv durchgeführt, einen Ausschluß im Kleinen. 'Akzeptanz von Fremdem' und 'Selbstbestimmung' - verabsolutiert - begründen dagegen die Unmöglichkeit eines jeden pädagogischen Angebots, das ja immer auf Veränderung aus ist, insbesondere gegenüber Menschen, die sich zu diesem Angebot nicht äußern können. Auch hier besteht der Ausweg aus der Sackgasse, wie mit dem Verweis auf den 'gemeinsamen Gegenstand' angedeutet, darin den individuellen Blick, der in diesen drei Begriffen weiter dominiert - und damit das zentrale Problem der traditionellen Sonderpädagogik tradiert - zu verlassen ohne in ein mystifizierend Allgemeines, 'irgendwie Ganzes' oder gar in ein beschreibbares 'bestimmtes Allgemeines' - Pädagogik des Gleichschritts - abzugleiten. Zwischen dem amorphen bzw. diktatorisch bestimmten Allgemeinen und dem individuell Einzelnen gibt es nämlich noch etwas Drittes als Grundlage des einen wie des anderen, den Zusammenhang. Dieser Zusammenhang kann modellhaft in Anlehnung an das 'Reich der Sprache' (Maturana/Varela 1987) als Sprachraum beschrieben werden. Dieses Modell hier zu entwickeln würde den Rahmen eines Editorials sprengen und uns in unsere Frage nur sehr wenig weiter führen (weitere Informationen: s. Rödler 1993 und ZfH 4/94, S. 231). Es bleibt aber festzustellen, daß für die im folgenden aufgewiesenen Besonderheiten einer sich gegen Ausschluß richtenden pädagogischen Arbeit durchaus auch theoretische Maßstäbe zur methodischen Reflexion vorhanden sind, wie die hier vorgestellten Überlegungen eben in jenem Modell gegründet sind.

Kommen wir noch einmal zurück zur obigen Aufstellung und lesen diese nun nicht auf die Differenz hin sondern auf das Gemeinsame, so verweist dieses auf einen gemeinsamen Kern, nämlich die Annahme einer gemeinsamen Anthropologie im Sinne einer sozialen Notdurft aller Menschen (zoon politikon), d.h. der Mensch wird erst denkbar (theoretisch) und kann erst werden (konkret) in und gegenüber den sozialen Handlungen seiner mitmenschlichen Umgebung. Die Realisierung dieser Gemeinsamkeit als Grundlage der Würde eines jeden Menschen, d.h. die Integration, ist damit notwendiger Weise das grundlegende Ziel aller (!) dieser theoretischen pädagogischen Positionen. Der Streit geht über den Weg zu diesem Ziel, d.h. ob eine Schulzeit in einer Sondereinrichtung einem möglichst erfolgreichen und glücklichen Leben in der Gesellschaft evtl. mehr dienlich ist als eine gemeinsame Beschulung aller Kinder. Keine der genannten pädagogischen Positionen hat aber Aussonderung zum Ziel! Dies gilt auch für die Positionen, die von einem Anderssein Behinderter ausgehen, da bei ihnen eben das Anderssein, die Anderheit als Grundlage menschlicher Existenz insgesamt angenommen wird, das Anderssein Behinderter - zumindest theoretisch - in dieser Gemeinsamkeit aufgehoben ist. Am weitesten abweichend sind hier Positionen, die für bestimmte Gruppen von Behinderten lebenslang bedeutsame typische (Schon-)Lebensräume beschreiben, wie z.B. die anthroposophischen Dorfgemeinschaften. Auch dies ist aber kein Kennzeichen allein für traditionelles sonderpädagogisches Denken. So gibt es ja auch innerhalb der Bewegung für gemeinsamen Unterricht Stimmen die darauf hinweisen, daß es Behinderten möglich sein soll Gruppen mit anderen Menschen mit der gleichen Erfahrung zu bilden, d.h. ihre Behindertenkultur in entsprechenden Gruppen zu leben (vgl. Prengel BHP 2/89, S. 197). Es wird deutlich, daß der Ausschluß um den sich alle diese Überlegungen drehen, in dem oben angedeuteten 'Zwischenraum' dem Sprachraum entsteht bzw. wirksam ist. Das Erkennbar-Werden in diesem Raum - als 'Behinderte' - ist ein kulturelles Phänomen gebunden an das Scheitern traditioneller Erziehungs- bzw. Lehrformen. Eine vorübergehende Krise im Rahmen der familiären Erziehung oder ein zeitlich begrenzter 'Leistungseinbruch' im Schulunterricht haben nicht diesen Charakter. Es kommt in diesem Fall nur zu Anpassungsreaktionen sowohl auf Seiten des betroffenen Menschen als auch seines Umfeldes, die zu guter Letzt die ehemalige Gestaltung von Entwicklung im gegebenen Zusammenhang wieder herstellen. Dieses Scheitern ist partiell - eben als Auslöser für die Anpassungsprozesse - bedeutsam, es gewinnt aber keine wesentliche Bedeutung für die betroffene Person, d.h. es wird nicht zu ihrem Wesensmerkmal. In dem Moment aber, in dem ein Mensch mit seinem Scheitern identifiziert wird bzw. er sich dieses Scheitern als seine Eigen-Art aneignet, entsteht etwas prinzipiell Neues. D.h. auch hier können sachlich didaktische Probleme am Anfang stehen, die mit dieser Art Scheitern verbundenen Prozesse bekommen aber einen so dominierenden Charakter, daß die sachlichen Probleme zunehmend in den Hintergrund treten. Das pädagogische Handeln kann sich hier deshalb nicht mehr nur auf erzieherische Hilfen oder didaktische Korrekturen beschränken, sondern hat das Gesamt der Wechselprozesse, in denen diese Person steht, zum Gegenstand!

An dieser Stelle wird nun doch ein kleiner Ausflug in die Theorie des Sprachraumes notwendig. Dieser wird gebildet aus den im gemeinsamen Handeln von Menschen sich gegenseitig mitgeteilten Bedeutungen. Synchronisationsprozesse führen dabei zu Selbstverstärkungen dieser Bedeutungen die diese für einzelne Menschen oder für Gruppen bedeutungsvoll werden lassen. Diese Prozesse sind Kreisprozesse, bei denen die verschiedenen Elemente wechselseitig von einander abhängig sind. Solche Prozesse bezeichnet die Chaostheorie als komplex. Der Unterschied zu 'komplizierten' Verhältnissen besteht darin, daß solche Prozesse, vor allem in Umbruchphasen nicht vorherbestimmt werden können, während 'komplizierte' Verhältnisse linearen Chartakter haben, d.h., bei einer der Kompliziertheit angepaßten genauen Analyse, vorhergesagt werden können. Der hier angesprochene Sprachraum kann deshalb eine vollständige Verständigung prinzipiell niemals gewährleisten. Er bleibt letztendlich immer mehrdeutig. Verständigung im engen Sinn ist also immer nur durch die Beschränkung des Gegenstandes der Kommunikation auf einen sachlichen Ausschnitt der gemeinsamen Tätigkeit, in dem lineare Verhältnisse herrschen und der deshalb erklärbar ist, zu gewährleisten.

Solche sachlichen Gegenstände stellen die traditionellen Unterrichtsgegenstände eines wissensvermittelnden Unterrichts dar. Die Anteile des Unterrichts, die im Sinne eines umfassenden Bildungsauftrages über diese Wissensvermittlung hinausgehen sind auf Grund der ihnen innewohnenden ästhetischen Aspekte komplexe Gegenstandsbereiche. Diese sind innerhalb der regulären Pädagogik deshalb wesentlich nur benannt, nicht aber sachlich oder methodisch differenziert ausgearbeitet. Die sachlichen Gegenstände des Unterrichts können dagegen im Rahmen der Sachanalyse erschlossen werden. So kann ein Unterrichtsgegenstand in seiner sachlichen Struktur durchaus kompliziert sein, besonders wenn er nicht nur eindimensional entlang der sachlichen Struktur sondern auch im Hinblick auf die möglichen Lernniveaus hin erschlossen wird. Es wird hier aber immer ein Schema denkbar, das es dem Lehrer ermöglicht, das Vermögen wie die Probleme eines Schülers bezogen auf diesen Gegenstand zu identifizieren um dann die adäquaten Hilfen geben zu können. Das Verhalten des Lehrers bleibt so also stets regulär, d.h. an verallgemeinerbaren Regeln orientiert. Natürlich ist es ein sehr wichtiger Teil der Aufgabe einer Pädagogik, die die Prozesse des Scheiterns regulärer Erziehungsprozesse zum Gegenstand hat, die vorhandenen sachlichen Erziehungsversuche zu analysieren um evtl. differenziertere sachliche Diagnoseund Handlungsoptionen zu erarbeiten und dem regulären Unterrichten, im Sinne der Hilfe bei der inneren Differenzierung, zur Verfügung zu stellen (Pädagogische Diagnostik, Förderdiagnostik). Diese Maßnahmen bleiben aber wie alle allgemein beschreibbaren pädagogischen Maßnahmen Teil der regulären Erziehung, d.h. sie sind für die hier in den Blick genommene Aufgabe im Einzelfall eines realen Scheiterns evtl. sehr wichtig, niemals aber ausreichend. (Umso größere Bedeutung haben diese Maßnahmen dagegen innerhalb der Prävention, wobei auch hier der Beginn von Zuschreibungsprozessen, wie deren Aneignung latent vorhanden sein kann und deshalb in die beratenden Überlegungen miteinbezogen werden sollte.) Die hier in den Blick genommene Pädagogik widmet sich deshalb nicht primär dem Individuum sondern dem Zusammenhang, den verschiedenen Perspektiven aller für das Leben eines Menschen bedeutungsvollen (Ein-)Wirkungsbereiche. Ein Teil des hierzu besonderen Wissens ist das um die Eigenschaften des Sprachraumes als komplexes System. So gilt es, das Gewicht, das hermeneutisch erschlossene Entwürfe der Bedeutungszusammenhänge im Umfeld eines Menschen für dessen Sinnbildung haben, zu verstehen und sie in ihrer pontentiell konstruktiven Kraft für eine Rekonstruktion 'normaler' Wechselverhältnisse einzusetzen. Meine Überlegungen machen deutlich, daß die von mir skizzierte Arbeit in einer Sonderinstitution völlig erfolgreich nicht geleistet werden kann. Es wird aber auch deutlich, daß eine alleinige Verortung eines Menschen in der allgemeinen Schule bei Fortdauern regulärer Pädagogik - wozu auch die innere Differenzierung zu zählen ist - nichts von der hier entworfenen Pädagogik hat, das Scheitern evtl. nur etwas kaschiert in sublimer Form aber weiter fortführt. Erst ein Unterricht, der sich als kultureller Ort artikuliert und so neben der sachlichen Wissensvermittlung auch die SINNlichkeit der Schüler, nicht im Sinne der Beliebigkeit individueller Ästhetik sondern im Sinne der Entwicklung entlang gemeinsamer Gegenstände in ihrem immer mehrdeutigen Charakter, ermöglicht, hat eine Chance Menschen, die in einem regulären Unterricht als Scheiternde erscheinen einen Ort zu bieten, an dem sich ihre Eigenart und die der Anderen zu einem Gemeinwesen zusammenfügt, an dem Fremd-sein immer wieder von Ähnlich-sein abgelöst wird und an dem die vordergründige 'Wahrheit' des sachlichen Stoffs immer wieder spannende Verfremdungen in den unterschiedlichen Perspektiven der verschiedenen Schüler erfährt. Diese Beschreibungen machen aber auch deutlich, daß eine solche Pädagogik prinzipiell in jeder pädagogischen Institution möglich ist, also auch in Sonderinstitutionen! Diese Feststellung hebt nicht die obige Feststellung auf, daß die hier umrissene Pädagogik nur in einer Allgemeinen Schule völlig erfolgreich sein kann. Sie zeigt aber, daß ein Fortschritt oder eine Annäherung an das hier beschriebene Ziel der Aufhebung von Behinderungsprozessen, in einer so arbeitenden Sonderinstitution im Einzelfall besser möglich ist als in einer Allgemeinen Schule, die auf einem fortdauernd regulären Unterricht besteht.

Wie aber nun das Kind nennen, das hier in Ansätzen beschrieben ist. Wissenschaftstheoretisch wäre 'komplexe Pädagogik' oder besser 'nichtlineare Pädagogik' am richtigsten, vielleicht auch die Wortungetüme '(re-)konstruierende Pädagogik' oder 'polyperspektivische Pädagogik'. Allerdings dürften diese Bezeichnungen wohl kaum unmittelbar verstanden werden. Von den oben genannten Begriffen käme 'Sonderpädagogik' in der zweiten Lesart dem beschriebenen Gegenstand wohl am nächsten. Andererseits gilt es zu akzeptieren, daß sich hier ein konventionelles Verständnis im Sinne der ersten Lesart eingestellt hat - von den furchtbaren Urgründen des Wortes, die Möckel in die Diskussion einbrachte ganz zu schweigen (s.BHP 1/96) - , das damit den hier vorgestellten Überlegungen zentral entgegen läuft. Dies gilt in noch stärkerem Maße für 'Behindertenpädagogik', bei der - konventionell - ebenfalls die erste Lesart so sehr dominiert, daß eine grundlegende 'Umdefinition' wohl kaum möglich ist. Kritikwürdig ist aber auch 'Integrationspädagogik' wie oben schon deutlich gemacht wurde. Da die anderen Begriffe keinen Zusammenhang mit den hier vorgestellten Überlegungen erlauben, bleibt nur noch der Weg einer neuen Benennung. Meine momentane Lösung ist 'integrierende Pädagogik'. Diese Bezeichnung klingt neben den Einwort-Bezeichnungen oben zwar etwas holperig, sie hat aber den Vorteil, daß die Verschiebung der Integration in das Adjektiv dieser die definitorische Absolutheit im Vergleich zur 'Integrationspädagogik' nimmt. Gleichzeitig signalisiert diese weniger konventionelle Bennennung ein breiteres Verständnis als alleine das der institutionellen Integration. So findet in dem beschriebenen pädagogischen Vorgehen ja nicht nur eine personale Integration statt sondern - hierfür unabdingbar - auch eine Theorie- und Methodenintegration, hier vorgestellt entlang des Modells des Sprachraumes und der ihn begründenden Anthropologie. Die Zusammenführung jetzt erkennbar notwendig verschiedener Theorien und Methoden - empirischer Methoden der Förderdiagnostik, hermeneutische (Re-)Konstruktionen von Sinn- und Bedeutungsstrukturen, systemtheoretische Überlegungen ... - ermöglicht so erst - im Unterschied des Methodennebeneinanders eines eklektizistischen 'every- thing-goes' - unser Tun als 'gemeinsamen Gegenstand' zu artikulieren. Integrierende Pädagogik ermöglicht so einen Ausschnitt menschlicher Kultur als Angebot eines 'DU' zu gestalten, der verhindert, daß Schüler als Behinderte '(sonder-)behandelt' werden aber auch, daß sie entlang des Zeitgeistes auf sich zurückverwiesen werden und so gezwungen sind, 'selbstbestimmt' an ihrem 'Ich zum Ich' zu werden.

Literatur:

Maturana, Huberto; Varela Francisco: Der Baum der Erkenntnis. Bern; München 1987 - Prengel, Annedore: Kollektivität von Behinderten - Ein brisantes Thema für die Integrationspädagogik. behindertenpädagogik Heft 2, 1989, S. 197 - Rödler, Peter: Menschen lebenslang auf Hilfe anderer angewiesen. Frankfurt am Main 1993 - ders.: Nichtsprechend und doch in der Sprache. Zeitschrift für Heilpädagogik, Heft 4, 1994, S. 231

Peter Rödler BEHINDERTENPÄDAGOGIK, 35. Jg., Heft 1/1996, Seite 2-9 mail

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