Soziologie des Ereignisses

Die SARS-CoV-2-Pandemie erteilt uns aktuell eine Lektion – nicht nur über unser prekäres Verhältnis zur Natur, sondern darüber wie die Transformationskraft eines Ereignisses verflüssigt, was noch Augenblicke zuvor fest zu sein schien. Doch ist die Soziologie für ein solches Ereignis gewappnet?

Drei soziologische Kardinalfragen lauten "Was ist Handeln?", "Was ist soziale Ordnung?" und "Was bestimmt sozialen" Wandel (Joas & Knöbl 2004). Wesentliche Teile soziologischer Argumentation bestehen darin, spezifische Antworten auf diese drei Fragen zu formulieren. Auf verschiedene Weisen haben Vertreter*innen unterschiedlicher soziologischer Paradigmata Vorschläge unterbreitet. Anhänger*innen utilitaristischer Ansätze rücken Entscheidungen und Handlungsvollzüge einzelner Akteure in den Mittelpunkt, um von dort aus auf soziale Ordnung und sozialen Wandel zu schließen. Die Eigenlogik operativ geschlossener Kommunikationsphären ist wiederum Gegenstand systemtheoretische Argumentationen, welche den Aspekt der Ordnung betonen, während Akteur und Handlung geradezu verschwinden. Wissenssoziologisch inspirierte Ansätze zentrieren wiederum die wissensfundierte, praktische Orientierung enkulturierter Alltagsmenschen. Aus der Perspektive relationaler Soziologien muss die Frage nach der Ordnung unter Beachtung des komplexen Netzes der Dinge oder besser ihrer Verweisungszusammenhänge angegangen werden. Rationalität, Kommunikation, Wissen, Praxis, Relationalität – was diese Ansätze mit vielen anderen eint, ist der Versuch, das Soziale von wesentlichen zentralen Aspekten her zu denken.

Eine Soziologie des Ereignisses führt einerseits diesen Versuch, das Soziale von einer zentralen Kategorie her zu verstehen fort. Andererseits nimmt das Projekt eine Metaposition ein, wenn danach gefragt wird, was unterschiedliche soziale Paradigmen zur Schärfung der Kategorie des Ereignisses beizutragen haben. Nicht zuletzt geht die Frage nach dem Ereignis mit einer Akzentverschiebung einher. Die Banalität des Ereignishaften zeigt sich darin, dass sich die Fortschreibung des Gewesenen durch individuelle, kollektive, systemische Anschüsse ereignet. Doch wohnt dem Ereignis transformatives Potential inne.

Ein Ereignis in seiner reinsten Form ist für Slavoj Žižek: „etwas Schockierendes, as den Fugen Geratenes, etwas, das plötzlich zu geschehen scheint und den herkömmlichen Lauf der Dinge unterbricht; etwas, das anscheinend von nirgendwo kommt, ohne erkennbare Gründe, eine Erscheinung ohne feste Gestalt als Basis.“ (Žižek , Slovoj. 2016, S. 8) Es ist „In seiner grundlegendsten Definition ist […] nicht etwas, das innerhalb der Welt geschieht, sondern es ist eine Veränderung des Rahmens, durch den wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr bewegen.“ (ebd. S. 16) In der Verkettung von Banalität und differenzschaffender Potentialität des Ereignishaften liegt analytisches Potential, um die Fragen nach Ordnung wie auch Wandel neu zu denken und von dort aus lässt sich schließlich frei nach Goffman die Umkehrung formulieren: es sind nicht (allein) die Menschen und ihre Ereignisse, sondern vielmehr geht es auch um die Ereignisse und ihre Menschen.