Zur Dialektik von Sozialstruktur(-analye) und sozialem Bewusstsein

Um die Tatsachen der je eigenen Gesellschaftsepoche sachlich sehen zu können, müsse man, so Theodor Geiger, „die unvoreingenommene Haltung des Mars-Gelehrten annehmen, daß heißt, alles vergessen, was über soziale Schichtung der Vergangenheit und Gegenwart gesagt ist, uns von allen Begriffsmodellen freimachen, mit denen man die Sozialstruktur zu erfassen versucht hat.“ (Geiger 2006, 103) Ein hehrer Anspruch, den Geiger im Jahre 1949 formulierte; eine kurze Vorrede, bevor er die sogenannten „Neuen Linien“ seiner Gegenwartsgesellschaft bzw. der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft aufzuzeigen versucht hat.

Völlige Unvoreingenommenheit, „wissenschaftliche Jungfräulichkeit“, das „reine Sehen“ sozialer Wirklichkeit – damals wie heute eine Utopie! Aber dennoch: womöglich eine notwendige...

Im Rahmen meines Dissertationsprojektes untersuche ich die These, dass die von der Sozialstrukturanalyse generierten Repräsentationen, d. h. vor allem Kategorien und Klassifikationen, aber auch graphische Darstellungen, die Sozialstatistik und die Sozialberichterstattung, einige Charakteristika aufweisen, die trotz der voranschreitenden Internationalisierung in diesem Wissenschaftsfeld, weiterhin länderspezifisch zu sein scheinen.

Ich gehe von der Annahme aus, dass die Sozialstrukturanalyse Teil umfassender gesellschaftlicher Denk- und Interpretationsprozesse ist und damit an einen Bereich gekoppelt ist, den wir kulturelle Leitbilder oder im Weber´schen Vokabular: "Weltbilder" nennen können.

Einen Schlüssel zu diesen kulturellen Leitbildern bilden charakteristische Vorstellungen, Überzeugungen, Wertungen und auch Begrifflichkeiten als in einer Gesellschaft intersubjektiv geteilte Überzeugungen. Diese möchte ich als „soziales Bewusstsein“ bezeichnen – ein Begriff Stanislaw Ossowskis (1972), den ich trotz der Gefahr des Vorwurfes psychologistischer Diktion ausgewählt habe, um dessen Latenz zu betonen und um auf ein daraus resultierendes Reflexionserfordernis hinzuweisen.

Denn – so lautet meine These: Soziales Bewusstsein und Sozialstrukturanalyse stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Bestätigung und reziproker Stabilisierung! Die „Kategorien des sozialen Bewusstseins“ sind folglich bereits in die je länderspezifischen Sozialstrukturanalysen eingegangen, in Sozialstrukturanalysen, die ihrerseits wissenschaftliche Repräsentationen generieren. Diese Repräsentation fußen – mit Eva Barlösius (2005) gesprochen – auf stillschweigenden Übereinkünften, und zwar darüber, wie soziale Wirklichkeit zu sehen sei, wie sich der einzelne als bestimmtes Teil einer bestimmten Gruppe sehen und beschreiben kann – oder gar sollte? Hierdurch werden die intersubjektiv geteilten Überzeugungen über die soziale Welt, über das gesellschaftliche Höher, Tiefer und Nebeneinander verstärkt, und die Persistenz sozialstruktureller Kategorien wird fundiert.

Es ist somit an der Zeit die Sozialstrukturanalyse als Produzentin und vor allem auch als Re-Produzentin von Repräsentationen sozialer Ungleichheit selbst zum Gegenstand soziologischer Forschung zu machen, um – mit Bourdieu gesprochen – „etwas ans Licht zu bringen, das sie wissen, ohne es zu wissen“ (Bourdieu 2001: 163 f.).